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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Benzin, Spielzeug und Reisen in den Süden zu senken!«
    »Bulle!«, zischte Lise laut. »Was treibst du da?«
    Bulle unterbrach seine Rede und flüsterte: »Pscht! Ich kann so was. Heute Morgen habe ich siebzigtausend Soldaten dazu überredet, ihre Gewehre wegzuwerfen und nach Hause zu gehen. Hör mal zu...«
    Bulle räusperte sich und setzte wieder laut an: »Ich werde Zahnschmerzen, Sportstunden und Schneeregen abschaffen. Und als Erstes schaffe ich die Todesstrafe ab, besonders für merkwürdige Professoren und zänkische kleine Mädchen. Wenn wir da einer Meinung sind, kriegen alle Playstations zu Weihnachten!«

    Wieder senkte er die Stimme: »Seht ihr? Sie nicken. Ich hab sie im Sack.«
    »Nicht so ganz, fürchte ich«, flüsterte der Professor.
    Und da hatte er wohl recht. Ein irritiertes Gemurmel durchlief die Menge. Manche drohten mit geballter Faust in Richtung des Schafotts.
    »Köpfe sollen rollen!«, rief eine Stimme.
    »Und als erster der von dem kleinen Frechling da!«, eine andere.
    Hinter ihm hatte Blutbrunn sich mittlerweile von dem Schock erholt, den ihm das Erlebnis versetzt hatte. Wahrscheinlich hatte das Säbelblatt sogar eine Scharte in die Klinge des Fallbeils geschlagen und man würde es nachschleifen müssen! Dieser Junge war offenbar ein gefährlicher Irrer und Blutbrunn samt den beiden Wachen näherten sich ihm vorsichtig von hinten.
    »Aber liebe Landsleute«, lachte Bulle gutmütig, »hört ihr denn nicht? Ich will Regen an Sonntagen abschaffen!«
    Eine Scheibe Brot mit Brie kam geflogen und verfehlte Bulles Kopf nur knapp. Er drehte sich weg und erblickte Blutbrunn und die beiden Wachen, die ihre Schwerter gezückt hatten.
    »Und höheren Lohn für alle!«, rief Bulle, aber es klang schon nicht mehr ganz so überzeugt. »Vor allem für... äh, Henker und Wachen mit Bart. Was sagt ihr dazu?«
    Niemand sagte etwas. Blutbrunn und die Wachen rückten näher und desgleichen die Menge, gefährlich murmelnd.
    »Verfluchte Tat, das verstehe ich nicht«, sagte Bulle halblaut. »In Waterloo hat das geklappt wie nix!«
    »Du musst dir etwas anderes einfallen lassen«, sagte Doktor Proktor. »Und zwar schleunigst. Sonst reißen sie uns in Stücke!«
    »Was denn noch?«, entgegnete Bulle. »Ich habe ihnen schon das Blaue vom Himmel versprochen. Was kann diesen Leuten eigentlich gefallen?«
    »Ich glaube«, sagte Lise, »sie mögen... Musik.«
    »Musik?«
    »Köpft den Knirps zweimal!«, rief jemand und mehrere antworteten: »Oui!«
    Bulle blickte verzweifelt um sich herum. Ihm war klar, gleich war das Spiel aus. Gleich, aber noch nicht sofort. Schließlich war er ein einfallsreicher Kerl, der dies und das zu bieten hatte, oder? Er konnte schnell rennen, er konnte lügen, dass sich die Balken bogen und er selbst es glaubte, er konnte Trompete spielen, so schön, dass sogar die Vögel vor Neid und Freude weinten, und...
    Trompete!
    Sein Blick blieb an dem Instrument hängen, das Lise immer noch in der Hand hielt. Sofort ließ er den Säbel los, entwischte den Händen der Wachen, die ihn eben ergreifen wollten, schnappte sich die Trompete und setzte sie an die Lippen.
    In demselben Moment, als die ersten beiden Töne in den blauen Himmel stiegen, verstummte der Gesang von Lerchen und Rotkehlchen und ebenso das Summen von Bienen und Schmeißfliegen. Als der dritte und der vierte Ton der Trompete entströmten, verstummte auch das drohende Gemurmel. Denn anders als »Ja, wir lieben dieses Land« war dies eine Melodie, die sie alle schon gehört hatten.
    »Ist das nicht . . .«, sagte eine stämmige Frau mit zwei Kleinkindern auf jedem Arm.
    »Das ist doch . . .«, meinte ein Bauer und kratzte sich mit der Heugabel unter der allzu warmen, rot gestreiften Mütze.
    Aber weiter kam Bulle nicht, denn jetzt packten ihn die beiden Wachen.
    »Ab auf die Guillotine mit ihm!«, rief Blutbrunn. »Er hat mich am Köpfen gehindert und darum wird er selber jetzt dreimal geköpft. Was sagt ihr, Leute? Gebt mir ein Z!«
    »Zett . . .!«, antworteten die Zuschauer, wenn auch nicht so laut und begeistert, wie es Blutbrunn lieb gewesen wäre. Aber er wusste, wie man die Leute in die richtige Mordsstimmung brachte.
    »Gebt mir ein...«
    »Nein!«
    Diese eine Stimme aus der Menge war so dünn und klein, dass Blutbrunn sie leicht hätte niederschreien können. Aber sie traf ihn derart unvorbereitet, dass er schlicht und einfach vergaß weiterzureden. Seit er hier auf dem Revolutionsplatz als Henker wirkte, hatte es noch nie

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