Doktor Proktors Zeitbadewanne
dich auf die Schulteln, dann kannst du bessel sehen«, sagte er.
»Schaffst du das denn?« Skeptisch sah Lise den eher schmächtigen Jungen an.
»Klal doch«, sagte Marcel und kniete sich hin.
Lise setzte sich auf seine Schultern und Marcel erhob sich schwankend.
»Hier bin ich!«, hörte sie Doktor Proktors Stimme. »Schnell! Es...äh, es geht um Leben oder Tod!«
»Oh nein...« Lise war restlos verzweifelt. Auf dem Schafott sah sie einen dürren, hageren Mann mit dünnem Haar über einer verrußten Motorradbrille, der in einer merkwürdigen Sprache herumschrie, wahrscheinlich auf Norwegisch.
»Was ist denn?«, stöhnte Marcel unter ihr.
»Doktor Proktor ist auf dem Schafott! Sie wollen ihn köpfen! Wir müssen ihn retten!«
Lise schwang sich von Marcel herunter und begann, sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen.
»Nein!«, rief Marcel. »Wel das Köpfen von Leuten velhindeln will, die geköpft welden sollen, wild geköpft! Lise!«
Aber Lise hörte nichts und drängelte weiter.
Vom Schafott her ertönte Blutbrunns heisere, vibrierende Stimme: »Dieses ehrenwerte Gericht hat Doktor Viktor Proktor zum Tode durch Köpfen verurteilt, da er zuvor versucht hat, das Köpfen dieses Verurteilten hier zu verhindern...«
Blutbrunn griff in den Flechtkorb, hob einen Kopf an den Haaren heraus und präsentierte ihn seinem aufmerksamen Publikum.
». . . der Graf von Monte Crispo!«
Der Jubel brandete gen Himmel.
Jetzt war Lise fast beim Schafott, blieb aber hinter einer hochgewachsenen Person stecken, die nicht beiseite rücken wollte.
»Lassen Sie mich doch durch!«, rief Lise und tippte dem Menschen auf die Schulter.
Die Gestalt drehte sich langsam um und starrte zu Lise hinab. Breit lächelnd und mit einer Stimme, so trocken wie der Wüstenwind, flüsterte sie:
»Schiff ahoi. Da bist du ja. Lass dich umarmen! « Lise erstarrte zu Eis. Das Blut in ihren Adern, de r Schrei, den sie auf den Lippen hatte, ja, sogar die Zei t
schien stehen zu bleiben, als zwei Arme – dünn, aber so stark wie Stahltrossen – sie umklammerten. Im Gesicht traf sie ein nach alten Socken stinkender Atem wie ein Sturmwind.
Blutbrunn hatte den Kopf des Grafen von Monte Crispo in den Korb zurückgeworfen und sich eine Brille auf seine Haube gesetzt. Er verlas ein Dokument.
»Folgendermaßen lautet der Bericht der Schöffen: ›Doktor Viktor Proktor ist ein guter Mann, der sich trefflich verteidigen kann. Leider hat er sich vor Gericht mit den Argumenten vertan und behauptet, er habe eine Zeitbadewanne erfunden, die...‹«
Das Publikum lachte fröhlich und Blutbrunn musste eine kleine Pause machen, bevor er fortfuhr.
Unterdessen versuchte Lise vergebens, sich dem eisernen Griff der Frau zu entwinden.
»Lassen Sie mich los!«, fauchte sie, aber die Frau ließ nicht locker.
»Ruhig, Kind«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Lass uns das Ende gemeinsam genießen. Hiernach gehört die Erfindung mir, weißt du nicht mehr?«
Sie hatte dieselben spitzen Zähne und schwarz angemalten Augen wie zuvor, doch wirkte die Raspa noch schrecklicher als in Lises schlimmster Fantasie, und zwar wegen ihres wilden, geisteskranken Blickes.
»Na, Lise, du wolltest den armen Kerl da oben wohl retten?« Die Raspa nickte zum Schafott hinauf, von dem aus Doktor Proktor verzweifelt über die Menge blickte, während Blutbrunn weiter das Urteil verlas und die Leute anfingen, zaghaft zu pfeifen, denn sie langweilten sich allmählich.
»Pah«, meinte Lise. »Wenn sie ihn köpfen, reise ich einfach ein paar Stunden in der Zeit zurück und rette ihn dort.«
Lachend schüttelte die Raspa den Kopf. »So leicht, wie ihr Idioten offenbar glaubt, ist die Geschichte nicht zu ändern. Ist dir das nicht aufgefallen? Nicht einmal Viktor bemerkt, dass das einst Geschehene sich nicht ändern lässt, ohne sein Leben dafür zu opfern. Oder hast du etwa vergessen, was ich in meinem Laden zu euch gesagt habe? Die Geschichte ist in Stein gemeißelt, und nur wer bereit ist zu sterben, kann die Schrift verändern.«
Jetzt wusste Lise es wieder. War es ihnen deshalb bislang nicht gelungen, in die damaligen Geschehnisse einzugreifen?
»Warum wissen Sie mehr darüber als Doktor Proktor?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen, während sie langsam versuchte, die Hand mit der Trompete freizubekommen.
»Weil niemand mehr über die Zeit weiß als ich, meine Kleine. Immerhin habe ich die Zeitseife erfunden.«
»Die Zeitseife?«, stöhnte Lise. Sie dachte an all die vie len
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