Doktor Proktors Zeitbadewanne
der fetten, hässlichen Sau saß ein Mädchen!
Die Sau blieb stehen, das Mädchen sprang von ihrem Rücken und lief in die Menschenmenge hinein. Sie rief: »Doktor Proktor! Doktor Proktor! Ich bin es, Lise! Sind Sie hier? Doktor Proktor!«
Doch die Stimme des Mädchens wurde vom Geschrei der Menge übertönt. Sie blieb stehen und rief weiter, bekam aber offensichtlich keine Antwort. Kein Wunder, wer sollte ihre Stimme in dem Trubel auch hören. Sie gab auf und Marcel sah, wie sie mit Tränen in den Augen verzweifelt umherspähte. Als mitfühlender Junge, der sich für Musik und das Wohlbefinden seiner Mitmenschen mehr interessierte als für die Köpferei, nahm Marcel die Trompete und ging zu dem Mädchen hin.
»Hallo!«, sagte er.
Aber sie war zu verzweifelt, um ihn zu bemerken.
Marcel räusperte sich. »Hallo, Lise!«
Sie drehte sich erstaunt zu ihm um.
»Blauchst du Hilfe?«, fragte Marcel.
»Woher weißt du, wie ich heiße?«
»Weil du es mehlmals gelufen hast – ›Ich bin es, Lise!‹«
»Ach ja«, lächelte Lise, wenn auch nicht besonders fröhlich, sondern unter Tränen.
»Deine Stimme kommt in diesel Menge nicht dulch«, sagte Marcel. »Wenn diesel Doktol Ploktol dich hölen soll...«
»Proktor«, sagte Lise.
»Sag ich ja«, sagte Marcel. »Du blauchst etwas Lautes. Zum Beispiel die hiel.« Er hielt ihr seine Trompete hin. »Und vielleicht solltest du diese komische Nasenklemme abnehmen.«
Lise betrachtete sein Instrument. »Ich kann doch damit nicht seinen Namen rufen.«
»Nein«, sagte Marcel. »Abel vielleicht kann ich etwas spielen, und wenn el das hölt, velsteht el, dass du hiel bist.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Ich weiß nicht. Gibt es vielleicht ein Lise-Lied odel ein Doktol-Ploktol-Lied?«
Lise schüttelte den Kopf.
Marcel dachte nach. »Odel ein Lied von da, wo du helkommst?«
»Ein Kanonenstraßenlied?«, sagte Lise. »Ich glaube nicht.«
»Schade«, sagte Marcel. »Wir wäle es mit einel Scheibe Blot mit Käse und Lote Bete?«
Lise starrte Marcels Trompete an. Vorstellungen sind Vorstellungen, dachte sie. Und Träume sind nur Träume. Oder vielleicht doch nicht?
»Könnte ich deine Tlompete mal ausleihen – ich meine deine Trompete?«, fragte sie.
Marcel sah sie an, dann seine Trompete. Er zögerte. Aber dann nickte er und reichte ihr das Instrument. Sie setzte das Mundstück an die Lippen. Konzentrierte sich, um alles Zischen der Guillotine und die Jubelrufe auszublenden. Hatte sie nicht genau von so einer Chance geträumt? Zwar nicht unbedingt davon, dass es an einem Ort wäre, wo den Leuten der Kopf abgeschlagen wird, aber dennoch: Dieses Stück vor vielen, vielen Menschen zu spielen.
Sie setzte die Finger auf die Ventile, wie Bulle es ihr beigebracht hatte, und dann blies sie. Der erste Ton klang zittrig und zögernd. Der zweite schepperte hässlich und schief. Der dritte war vollkommen daneben. Aber der vierte traf. Und der fünfte auch. Als der sechste Ton laut und kraftvoll in den blauen Nachmittagshimmel überm Revolutionsplatz in Paris stieg, nickte Marcel bewundernd. Ist das nicht eine merkwürdige Vorstellung – nur du und ich, wir beide wissen, dass dies das erste Mal in der Geschichte war, wo das Lied, das heute alle Norweger kennen, die norwegische Nationalhymne »Ja, wir lieben dieses Land«, in Frankreich zu hören war – ach nein: auf der Welt.
Die Töne durchdrangen den Lärm der Menschenmenge und alle drehten sich zu Lise um und lauschten. Sogar der Henker auf dem Schafott, der wegen seiner raschen Arbeit den Spitznamen Blutbrunn bekommen hatte, hielt inne, spitzte die Ohren unter seiner schwarzen Henkershaube und kratzte sich den nackten, tonnenförmigen Oberkörper. Eine ziemlich mitreißende Melodie war das, fand er. Alles, was noch fehlte, war...hm, was fehlte eigentlich? Ein Akkordeon vielleicht? Aber da wurde Blutbrunn aus seinen musikalischen Überlegungen gerissen, und zwar, weil der Todeskandidat, der schon auf der Guillotine lag, ein dünner, langer Lulatsch mit einer merkwürdigen Brille, die in seinem Gesicht zu kleben schien, auf einmal in einer merkwürdigen fremden Sprache losschrie:
»Bulle! Lise! Hier! Ich bin hier oben!«
Lise hörte zu spielen auf und sah sich mit klopfendem Herzen um. Für sie gab es keinen Zweifel, wem diese wie ein alter Rasenmäher heiser schnarrende Stimme gehörte. Es war Doktor Proktor! Sie hüpfte hoch, um herauszufinden, woher sie kam.
Marcel tippte sie an. Sie drehte sich zu ihm um.
»Ich nehm
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