Doktor Proktors Zeitbadewanne
jemand gewagt, die Stimme gegen ihn zu erheben. Schließlich wussten alle, dass das bedeutete, selbst den Kopf zu verlieren.
»Lasst ihn Tlompete spielen!«, rief die Stimme. »Wil wollen Musik hölen! So, wie sonntags flühel!«
Mucksmäuschenstill war es auf dem Revolutionsplatz. Mit einer grässlichen Grimasse, die wegen der Haube aber niemand sah, starrte Blutbrunn über die Menge.
»Wer war das?«, brüllte er.
»Ich«, antwortete die Stimme. »Malcel.«
»Malcel?«, wiederholte Blutbrunn. »Wachen, sofort geht ihr runter und...«
»Ich finde das auch«, unterbrach ihn eine andere Stimme, so heiser und trocken wie Wüstenwind. »Ich will das ganze Stück hören. Immerhin ist das die Marseillaise.«
Blutbrunn kriegte kein Wort mehr heraus. Stumm blickte er die hexenartige, schwarzhaarige, dürre Frau in ihrem langen Mantel an.
»Ich will das Stück hören!«, erscholl eine Stimme von weit hinten, gefolgt von beipflichtendem Schweinegrunzen.
»Ich auch!«, rief eine Frau.
»Ich auch! Spiel die Marseillaise, Junge!«
Blutbrunn drehte sich zu den beiden Wachen um.
»Mist!«, sagte er. Dann nickte er ihnen unwirsch zu und sie ließen Bulle los, der sich nicht weiter bitten ließ, sondern die Trompete an den Mund setzte und drauflosspielte. Schon nach ein, zwei Zeilen des Liedes begannen die Leute mitzusingen. Erst etwas vorsichtig, bald jedoch kräftiger:
»Contre nous de la tyrannie l’étendard sanglant est levé.«
Oder für alle, die zufällig gerade keine Franzosennasenklemmen aufhaben:
»Gegen uns erhob die Tyrannei ihr blutbeflecktes Banner.«
Bulle sprang auf die Guillotine, sodass er schräg hinter den Köpfen von Doktor Proktor und Lise stand, die beide aus Leibeskräften mitsangen:
»Zu den Waffen, Bürger!
Schließt die Reihen, Vorwärts, marschieren wir!«
Ein ganz unbestreitbar mitreißender Text, und auch als Bulle aufhörte zu spielen, sangen die Leute weiter. Aus dem gewaltigen Chor konnte Bulle drei besondere Stimmen heraushören: Eine helle, dünne, die irgendwie Probleme mit dem R hatte. eine heisere, wüstenwindartige. Und hinter sich die kraftvoll vibrierende von Blutbrunn.
»Wir sollten alle zum Tode Verurteilten freilassen!«, schrie Bulle, als das Lied verklungen war. »Wir wollen keinen Tod mehr, denn was wollen wir?«
»Was wollen wir?«, echote die Menschenmenge auf dem Revolutionsplatz.
»Gebt mir ein L!«, rief Bulle.
»Äll!«
»Gebt mir ein E!«
»Eeh!«
»Gebt mir ein B!«
»Beh!«
»Gebt mir ein E!«
»Eeh!«
»Gebt mir ein N!«
»Änn!«
»Und was ergibt das?«
»Leben!«, tobte die Menge. »Leben! Leben!«
Jetzt kam Bulle richtig in Fahrt. Er war so begeistert, erregt, ekstatisch und lyrisch, dass er einfach anfangen musste zu singen. Also tat er es:
»In diese Bude kommt jetzt Leben – jaja!
Hier wird es keinen Tod mehr geben – nein, nein!«
Blutbrunn eilte zur Guillotine, öffnete die Klappe und half Lise und Doktor Proktor auf die Beine. Er klopfte ih- nen den Staub von den Kleidern und erkundigte sich besorgt, ob mit ihnen alles in Ordnung sei. Ganz offensichtlich war es das, denn sie rannten sofort zu dem kleinen, uniformierten Knirps, griffen ihn jeder unter einem Arm und hoben ihn hoch, während er weiterschmetterte:
»In diese Bude kommt jetzt Leben – jaja!«
Vor dem Schafott hatten die Leute angefangen, mitzusingen, zu tanzen, auf der Stelle zu hüpfen, es herrschte ein Getümmel wie nicht einmal bei den gelungensten Sonntagnachmittagsköpfungen. Blutbrunn spürte, wie bei diesem Anblick eine seltsame Wärme, ja Freude in ihm aufstieg. Unaufhaltsam, es lag an diesem fast ärgerlich einfachen und mitreißenden Lied. Als die Freude bis zu seiner Kehle emporgestiegen war, tat er etwas, das er in seiner gesamten Laufbahn als gefürchtetster Henker von Paris noch nie getan hatte: Er riss sich die Haube herunter und stellte sein Gesicht zur Schau. Viele der Sänger verstummten und sahen ihn entsetzt an. Blutbrunn war nicht eben bildschön. Aber er lächelte breit und setzte mit donnerndem Vibrato ein:
»In diese Bude kommt jetzt Leben – jaja!«
Und damit war das Fest wieder in vollem Gange. Die Leute drehten auf, drehten durch, drehten sich um und rundherum, sie drehten Pirouetten, bis sie den Drehwurm bekamen. So übersahen sie die drei Gestalten, die hinter dem Schafott verschwanden und um die Ecke des berüchtigten Gefängnisses, der Bastille, schlüpften, sie sangen einfach weiter und prusteten sich gegenseitig mit Rotwein
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