Dolce Vita, süßer Tod: Kriminalroman (Inspektor Stucky) (German Edition)
dürfte … an die achtzig Jahre alt sein, die Gute.«
Für Stucky war es nicht schwer herauszufinden, wo Maria Fazzuoli, Jahrgang 1921, gelandet war, nämlich in einem warmen Bett des Altenheims von Castelfranco Veneto, ein paar Schritte vom historischen Zentrum des Städtchens entfernt.
Die Signora hatte keine Angehörigen mehr. Wenn jemand sie besuchen kam, dann waren es ihre ehemaligen Schülerinnen, längst im Ruhestand befindliche Verkäuferinnen, die sich an ihren Unterricht erinnerten und dankbar waren, dass sie es ihnen ermöglicht hatte, ein Arbeitsleben zwischen Wolle und Stoffen, Schlafbrillen und Bassetti-Kissen zu verbringen. Die Pflegerinnen auf ihrem Stockwerk konnten es nicht fassen, dass jetzt plötzlich ein männliches Wesen nach Signora Fazzuoli fragte, und auch sie selbst, die stilvoll hergerichtet in einem einzeln stehenden Lehnsessel vor einem alten Glasfenster saß, hatte Mühe zu begreifen, dass es sich tatsächlich um einen Besucher handelte. Sie versteifte sich darauf, Stucky mit »Herr Doktor« anzureden und abzustreiten, dass sie gelbe und schwarze Tabletten brauchte.
»Ich bin kein Arzt.«
»Das behaupten alle Doktoren, und sie sagen auch, dass Medikamente keine Medikamente wären, sondern Bonbons: Maria, essen Sie die Bonbons. Und dabei sind es Medikamente! Ich weiß, dass es Medikamente sind.«
»Ich bin Polizist.«
»Ach ja! Und wenn ich die Bonbons nicht esse, dann brummen Sie mir eine Strafe auf, stimmt’s?«
»Aber nicht doch! Ich wollte Sie etwas fragen, im Zusammenhang mit den Verkäuferinnen …«
»Ach ja! Jetzt werden Sie sagen, dass Sie, weil Sie Polizist sind, die Verkäuferinnen beschützen. Sie begleiten sie nach Hause und geben ihnen die Bonbons. Dann werden Sie sagen: Maria, wenn die Verkäuferinnen die Bonbons von einem Polizisten annehmen, können Sie sie auch nehmen. Und dabei sind es Medikamente. Mich können Sie nicht hereinlegen! Sie nicht!«
»Signora Fazzuoli, in Treviso gibt es jemanden, der Verkäuferinnen belästigt. Erinnern Sie sich noch, wie Sie sie der Reihe nach ausgebildet und ihnen beigebracht haben, wie sie sich den Kunden gegenüber zu verhalten hätten …«
»… und vor allem, wie mit den Ladenbesitzern umzugehen war«, sagte die Frau und versuchte, sich vom Sessel zu erheben, weil sie das Licht, das zum Fenster hereinflutete, störte. Sie schloss die Augen und fuhr fort: »Mit den Besitzern, weil die Geschäftsleute einen besonderen Berufsstand darstellen. Man muss sie zu nehmen wissen. Diejenigen, die an der Kasse sitzen und die Verkäuferin keinen Moment aus den Augen lassen; diejenigen, die nie selbst in ihren Laden kommen, sondern ihre Frauen oder ihre Töchter schicken, um einen in die Bredouille zu bringen; diejenigen, die etwas als Gegenleistung wollen; diejenigen, die sich in ihre Verkäuferin verlieben; und dann noch die Ehefrauen der Geschäftsleute und die Mütter der Ladenbesitzer: O, ich gebe meinen Mädchen für alles eine Lösung an die Hand! Bewahrt die Ruhe, kontrolliert die Kasse, nehmt niemals etwas aus dem Lager mit, fordert eure Freundinnen nicht auf, dort einzukaufen, weil ihr sie sonst in der Illusion wiegt, sie könnten einen Rabatt bekommen; bringt während der Arbeitszeit keine Leute mit, in die ihr verliebt seid, seid niemals nachlässig und niemals dösig! Seid verführerisch, seid überlegen: Ihr müsst sie überzeugen, sie sind es, die euch brauchen …«
»Was meinen Sie, Signora Fazzuoli: Wäre es möglich, dass ein Kunde einen krankhaften Hass auf Verkäuferinnen entwickelt?«
»Auf meine Mädchen? Mit Sicherheit nicht!«
»Ich meine, ganz allgemein. Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, dass es zu starken Spannungen zwischen Verkäuferinnen und Kunden kam?«
»Niemals.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Wollen Sie mir etwa Medikamente verpassen?«
»Nein, keine Sorge! Wer könnte Ihrer Meinung nach seinen Hass auf Verkäuferinnen richten?«
»Ein Irrer. Wer sonst würde sich gegenüber jungen und schönen Frauen schlecht benehmen?«
»Übt heute niemand mehr Ihre so wichtige Tätigkeit aus?«
»Sind Sie wirklich Polizist?«
»Wollen Sie die Medikamente haben?«
Die Straße zwischen Castelfranco Veneto und Treviso ist eine grauenhafte Kette aus Autos und Lastwagen, die sich zwischen zwei oder drei kleinen restaurierten Dörfern hindurchzwängt, Ortschaften, die zu städteplanerischer Einfalt verdammt sind. Mit Geduld reagierte Stucky auf Ampeln, Baustellen, Verkehrsstockungen und Staus.
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