Dolce Vita, süßer Tod: Kriminalroman (Inspektor Stucky) (German Edition)
Verkäuferinnen abzustrafen, also genau jene Frauen, die die vorweihnachtliche Konsumorgie so tatkräftig anheizen?
Dann müsste Stucky jetzt anfangen, sich ein Bild von ihm zu machen, ein Bild von diesem Klema. Alles deutete darauf hin, dass er ein stattlicher Kerl war, ein nervöser Typ, der Witterung aufnimmt und wie ein kleines Raubtier aussieht und handelt, das sofort und instinktiv auf die notwendigen Signale reagiert und auf das Wesentliche zusteuert. Ein geduldiger, sorgsamer Mensch konnte er nicht sein; wirklich detaillierte Pläne brauchte er nicht. Stucky stoppte seine Gedanken, weil sie ihn zu weit von der Realität fortführten. Unverständlicherweise weigerte sich seine Fantasie, diesem Klema anhand der Fakten ein Profil zu geben.
Auf dem Tisch hatte er nun, wie versprochen, die Lokalzeitungen mit den Riesenbalkenüberschriften liegen. Die Fernsehsendungen vom Abend zuvor waren mit Sprechbläschen angereichert worden: Verwandte, Freunde, die üblichen Befragungen von Passanten. Letzteres dummes Zeug, abgesondert von den Erstbesten, die aufs Geratewohl antworteten.
Nur Alessis Artikel war genießbar:
Verkäuferinnen …
Den Ersten begegnet man in den Läden rund um den Busbahnhof. Nicht in den familiengeführten Geschäften und auch nicht in den Läden, die Waren anbieten, welche auch eine plumpe Männerhand verkaufen kann; als Beispiele seien hier nur die Läden für Jagdwaffen und Samuraischwerter oder die Tabakwarenhandlungen genannt, die Bruyère-Pfeifen führen. Man trifft sie auch nicht in den Lebensmittelgeschäften an, weil die Personen weiblichen Geschlechts, die dort arbeiten, nicht zur eigentlichen Kategorie der Verkäuferinnen gehören, denn ihre Figuren werden von rosafarbenen Schürzen umhüllt, ihr Haar unter Hauben versteckt – all das in Befolgung der Hygienevorschriften, die der weiblichen Schönheit mehr als abträglich sind.
Sie tauchen erst in den Kurzwarenhandlungen, in den Dessous-Boutiquen, in den Parfümerien und den Optikerläden auf. Voller Anmut zeigen sie Ihnen Schuhe, Stiefel und Krawatten; sie sprühen Ihnen weiche Duftwolken auf die Haut und schnuppern diskret daran; sie setzen Ihnen eine Brille auf die Nase und bekunden dabei ihr lebhaftestes Interesse; sie überprüfen die feinen Farbnuancen Ihres Make-ups und recken sich auf der Leiter, um Ihnen das zuoberst liegende Hemd vom Regal herunterzuholen, oder suchen im Nebenraum nach der letzten Hose in einer ausgesprochen selten verlangten Größe.
Sie kleiden sich in Übereinstimmung mit der Ästhetik ihres Geschäfts, sportlich oder aufreizend, geschminkt oder naturbelassen, sanft, lächelnd und extravagant wie einige der Objekte, die sie an sich selbst zur Schau stellen: überdimensionale Bernsteinringe oder Halsketten im Ethnolook. Das Haar gelockt, geglättet, gefärbt. Flexibel, freundlich oder mit einem Wort: verlockend. Wer einen Gegenstand erwirbt, handelt sich zugleich ein bezauberndes Lächeln ein. Es gibt wahre Prachtexemplare: In einer Parfümerie in der Via Calmaggiore lackiert sich eine überaus attraktive rothaarige Dame die Fingernägel mit tiziangleicher Grazie, und ein Stückchen weiter, in Richtung Via San Vito, lüftet ein blondes Verkäuferinnenpaar voluminöse Tages- und Steppdecken, als handelte es sich um flaumfederleichte Wolken.
Unmittelbar hinter der Piazza dei Signori tänzelt eine wahre Balletttruppe brünetter Damen zwischen Mänteln, Seidenschirmen und Netzstrümpfen herum.
Wir sollten sie niemals unterschätzen! In unseren Breiten würde ein ganzer Talentepool vergebens so emsig arbeiten, gäbe es nicht die zarten Hände der Verkäuferinnen, die kalte Waren in nützliche und unnütze Kleinigkeiten, in Glücklichmacher und Trostspender verwandeln.
Alle zusammen wetteifern sie um die Jugend. Wir würden es als wirklich schlimmes Zeichen interpretieren, wenn wir sähen, dass Verkäuferinnen älter oder gar alt würden, wenn etwas Bösartiges ihre stetige Verjüngung und ihre ständige Rotation zum Stillstand brächte, wenn es das Angebot junger Blicke und elastischer Haut nicht mehr gäbe und dieses zauberhafte Geschenk, dieser Fluss von Fülle, Glanz und Erlesenheit versiegen würde.
Vielleicht wird das nie der Fall sein. Von den Mauern am Bahnhof wird ein reizvolles Netz von Wasserläufen und Plätzen, Brücken, Postkartenansichten und Geschäften bleiben, von denen einige alt und wunderschön, andere von fragiler Modernität sind. Vor allem diese Letzteren lassen sich nur dank
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