Dolch und Münze (01): Das Drachenschwert (German Edition)
während er den Text Wort für Wort und Satz für Satz zusammenstückelte.
Anders als die Tiere der Felder muss die Menschheit nicht auf einen abstrakten, mythischen Gott zurückgreifen, um den Grund ihrer Existenz zu erfahren. Mit der Ausnahme der unveränderten, viehischen Erstgeborenen ist jede Rasse der Menschheit ein Artefakt mit einem eigenen Zweck. Die östlichen Rassen – Yemmu, Tralgu, Jasuru – wurden eindeutig als Kriegsbestien geschaffen, die Raushadam als Objekte des Amüsements und der Unterhaltung, die Timzinae – die jüngste aller Rassen – als ein Volk von Imkern oder für einen ähnlich leichten Einsatz, die Cinnae, mich eingeschlossen, als bewusstes Instrument des Wissens und der Philosophie, und so weiter.
Aber was ist mit den Versunkenen? Einzigartig unter den Rassen der Menschheit zeigen die Versunkenen einen Entwurf ohne Zweck. Die allgemeine Meinung stellt sie, unsere niederen Geschwister, als Verwandte der Pflanzen oder der sich nur langsam bewegenden Tiere der westlichen Kontinente dar. Ihre gelegentlichen Zusammenkünfte in Gezeitentümpeln verraten mehr über die Strömungen der Ozeane als über menschlichen Willen. Der ein oder andere Romantiker legt nahe, dass die Versunkenen an einem tiefgreifenden, von den Drachen ersonnenen Plan arbeiten, der sich noch nach dem Tod seiner Planer weiter entfaltet. Ein romantischer Gedanke, und einer, für den man Verständnis haben muss.
Stattdessen ist es, denke ich, klar, dass die Versunkenen das deutlichste Beispiel der Menschheit für künstlerischen Ausdruck darstellen und …
Oder war ästhetische Absicht zutreffender als künstlerischer Ausdruck ? Geder rieb sich die Augen. Es war spät. Zu spät. Morgen stand ein weiterer langer Ritt nach Süden an, mit einem weiteren solchen Tag, der darauf folgen würde. Wenn Gott gütig war, würden sie noch in dieser Woche die Grenze erreichen, einen Tag oder schlimmstenfalls zwei damit verbringen, das Schlachtfeld auszuwählen, einen Tag, um die örtlichen Streitkräfte zu zermalmen, und dann konnte er in einem richtigen Bett liegen, richtiges Essen verspeisen und Wein trinken, der nicht nach dem Schlauch schmeckte, in dem er transportiert wurde. Wenn er je so weit kam.
Geder legte das Buch zur Seite. Er kämmte sich die Haare und freute sich über die Abwesenheit von Läusen. Er wusch sich Gesicht und Hände, dann schnürte er seine Weste für den kurzen Marsch zu den Latrinen zu, denen er noch einen Besuch abstatten wollte – eine letzte Station vor dem Schlafengehen. Vor seinem Zelt schlief sein Knappe – ein weiteres Geschenk seines Vaters – ganz nach Dartinae-Art zu einem Ball zusammengerollt, mit schwach glühenden Augen hinter den geschlossenen Lidern. Hinter ihm lagerte die Armee in der Landschaft wie eine bewegliche Stadt.
Kochfeuer sprenkelten die nahe gelegenen Hügel und erfüllten die Luft mit dem Geruch nach Linsen. Die Wagen waren im Mittelpunkt des Lagers versammelt, und die Maultiere, Pferde und Sklaven waren daneben in unterschiedlichen Pferchen untergebracht. Ein kalter Wind wehte aus dem Norden herab. Das war ein gutes Zeichen. Kein Regen. Der Mond war den halben Weg zum Himmel emporgestiegen, und seine Sichel gewährte eher eine Ahnung von Licht, als den Boden tatsächlich zu beleuchten, so dass Geder sich seinen Weg zu den Latrinen vorsichtig suchen musste.
Das Traktat ging ihm nach wie vor durch den Kopf. Er wünschte sich, es gäbe auf diesem Marsch jemanden, mit dem er sich darüber unterhalten könnte, aber spekulative Traktate wurden nicht als männliche Kunst angesehen. Poesie. Reiten. Bogenschießen. Schwertkampf. Sogar Geschichte, wenn sie mit der entsprechenden Wortgewandtheit geschrieben war. Aber das spekulative Traktat war ein Laster, das er am besten vor seinen Begleitern verbarg. Sie verlachten ihn schon genug wegen seines Bauchumfangs. Man musste ihnen nicht noch mehr Steine für ihre Schleudern geben. Aber wenn es nicht ästhetische Absicht hieß … behauptete der Cinnae-Verfasser wirklich , dass die Versunkenen nur ins Leben gerufen worden waren, weil sie die Küsten hübscher machten?
Die Latrine war leer, ein kleines Stoffzelt mit zwei groben Planken, die über einer Grube lagen. Geder ließ seine Hosen herunter, und in Gedanken wälzte er immer noch die feinen Details aus dem Buch. Er bemerkte den süßlichen Geruch unter dem Gestank nach Scheiße, aber er hielt ihn für unwichtig. Er ließ sich mit bloßem Hintern auf den Planken nieder, seufzte
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