Dolly - 06 - Abschied von der Burg
Hausmutter öffnete den Umschlag. Es fiel eine Fotografie heraus, die Irene im Badeanzug zeigte.
„Irene! Das ist eine Fotografie“, rief die Hausmutter ärgerlich. „Oh, das tut mir leid“, sagte Irene und gab ihr einen zweiten
Umschlag. Die Hausmutter riß ihn auf und erstarrte.
„Soll das ein Witz sein? Dies ist die Steuerkarte für einen Hund!“ „Ach du lieber Himmel!“ sagte Irene. „Da ist also Harras’
Steuerkarte mitgekommen! Verzeihung, Hausmutter. Dies hier muß aber der richtige Umschlag sein!“
Alle kicherten.
Jetzt erschien auch Alice; ihre lebhaften Augen blitzten. Die Hausmutter öffnete den dritten Umschlag und fing an zu
lachen. Da war eine sauber gezeichnete Karikatur, die sie selbst zeigte, wie sie Irene wegen des vergessenen Gesundheitszeugnisses schalt. Britta, Irenes Freundin, hatte die Karikatur gezeichnet und sie zum Scherz in den dritten Umschlag gesteckt. „Das werde ich zum Andenken an dich aufheben. Ich werde die Zeichnung in meinem Zimmer an die Wand hängen, zur Warnung für alle Mädchen, die ein schlechtes Gedächtnis haben. Aber was ist jetzt mit dem richtigen Gesundheitszeugnis?“
Es wurde zu guter Letzt gefunden, und die Hausmutter sagte zufrieden: „Du mußtest deine traditionelle Vergeßlichkeit wohl noch einmal beweisen!“ Sie lächelte. „Nun, Irmgard, wo ist dein Zeugnis? Und deins, Josi?“
Felicitas kam und erhielt von Dolly ihr Gesundheitszeugnis. Dann ging Dolly mit Alice und Susanne hinaus.
„Ich wette, das ist Will“, sagte sie auf einmal, als das Trappen von Pferdehufen auf der Auffahrt zu hören war. „Wie viele Brüder sie wohl diesmal begleiten?“
„Ja, es ist Will, aber es sind nur drei Brüder dabei“, sagte Susanne. „Und da ist auch Clarissa. Sie muß auf ihrem kleinen Pferd mit Will gekommen sein.“
„Und da ist ja auch unsere liebe Evelyn“, sagte Alice spöttisch. „Wie oft haben wir eigentlich schon diese rührende Abschiedsszene mit ihrer Mutter gesehen? Kommt, wir wollen zuschauen, weil es das letzte Mal ist!“
Aber Evelyn nahm sich in acht. Zu oft war sie von den Mädchen schon aufgezogen worden. Sie stieg aus dem Auto, ernst und mit Würde. Sie küßte ihre Mutter und Fräulein Winter, ihre alte Hauslehrerin, und tröstete sie. Ihrem Vater gab sie keinen Abschiedskuß.
Er rief ihr nach: „Auf Wiedersehen, Evelyn.“
„Auf Wiedersehen“, sagte sie in so eisigem Ton, daß sich die Mädchen erstaunt ansahen.
„Da hat es Krach gegeben“, sagte Susanne. „Ich vermute, ihr Vater hat ihr wieder einmal den Kopf zurechtgesetzt wegen ihrer ständigen Überspanntheiten. Es tut Evelyn nur gut, daß es in ihrer Familie wenigstens einen vernünftigen Menschen gibt!“
Evelyns Mutter betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch. Das Auto wendete, fuhr die Auffahrt hinab und verschwand. Evelyn betrat das Zimmer.
„Hallo“, sagte sie. „Schöne Ferien gehabt?“
„Hallo, Evelyn“, sagte Dolly. „Und du?“
„Danke, zufrieden. Allerdings war mein Vater eine entsetzliche Plage.“
Die anderen erwiderten nichts. Evelyn konnte einfach nicht lernen, daß es sich nicht gehörte, seine Eltern vor anderen schlecht zu machen.
„Meine Mutter hat bestimmt, daß ich in die Schweiz auf eine einfach himmlische Schule gehen soll“, erzählte Evelyn. „Sie ist schrecklich teuer. Die berühmtesten Leute schicken ihre Töchter dorthin, die Töchter von Baronin Greif, die…“
Immer dieselbe Evelyn! dachten Dolly und Susanne angewidert. Eingebildet, überheblich und dumm. Sie wandten sich ab. Sicherlich war nichts auf der Welt imstande, Evelyn zu einem bescheidenen, freundlichen Mädchen zu machen.
Evelyn merkte gar nicht, daß ihr die Mädchen den Rücken zukehrten. Sie schwatzte immer weiter. „Und dann, als schon alles beschlossen war, sagte Papa, es sei zu teuer und es sei überhaupt Unsinn. Ich solle lieber arbeiten gehen. Stellt euch nur vor, arbeiten gehen! Er sagte…“
„Warum mußt du uns denn das alles erzählen“, unterbrach Dolly sie. „Ich glaube, daß sich dein Vater darüber nicht freuen würde!“
„Das ist mir egal“, sagte Evelyn. „Er verdirbt immer alles. Aber ich habe ihm gesagt, was ich von ihm halte! Ich gehe meinen eigenen Weg, basta!“
Susanne und Dolly sahen sich an. Sechs Jahre hatte Evelyn auf Burg Möwenfels verbracht und viele harte Lehren erhalten. Aber es hatte ganz den Anschein, als ob sie nichts gelernt hatte!
Beim Abendessen sahen sich die Mädchen um, wer zurückgekommen war und wer nicht. Sie
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