Dolly - 10 - Wiedersehen auf der Burg
Jahre, die sie als Schülerin nach Möwenfels gekommen war – das erste Jahr noch ganz wirr im Kopf von all dem Neuen, den vielen fremden Gesichtern, und später nur noch voller Wiedersehensfreude.
„Dolly! Dolly Rieder! Wie schön, Sie wiederzusehen!“
„Mademoi – Verzeihung! Madame Monnier! Ich freue mich so! Und wie gut Sie aussehen! Sie sind jünger geworden, glaube ich!“
Dolly umarmte die rundliche kleine Französischlehrerin, bei der sie so viele Jahre Unterricht gehabt und deren Hochzeit sie in ihrem letzten Jahr im „Möwennest“ mitgefeiert hatte.
„Ja, ma chère, das haben mir schon andere gesagt. Das Glück – es muß wohl das Glück sein“, erwiderte die kleine Französin lächelnd.
„Und wie geht es Monsieur Monnier?“ Aber schon wurden sie durch einen Schwarm Mädchen getrennt, der sich durch das Tor drängte. Dolly winkte ihrer Schar und kämpfte sich bis zum Eingang des Nordturms durch. Hin und wieder entdeckte sie altbekannte Gesichter, winkte heftig und wurde weitergeschoben, ehe sie ein Gespräch beginnen konnte.
In einem Zimmer neben dem Aufgang zum Nordturm erwartete sie die Hausmutter.
„Dolly! Herzlich willkommen! Ich hätte schwören können, daß wir Sie hier wiedersehen – so sehr, wie Sie an Möwenfels gehangen haben!“ Sie griff mit beiden Händen nach Dollys Armen und hörte gar nicht mehr auf, sie zu schütteln.
„Danke, Hausmutter! Es ist, als käme ich nach Hause, mir ist ganz schwindlig vor Freude!“ Dolly löste sich behutsam aus der Umklammerung. „Und ich hoffe, ich werde Ihnen eine wirksame Hilfe sein.“
„Ganz gewiß. Wer mit so viel Liebe an Möwenfels hängt, der wird auch gute Arbeit leisten“, sagte die Hausmutter feierlich. „Ich habe Ihnen das kleine Zimmer im obersten Stock hergerichtet – neben dem Schlafsaal der ersten Klasse. Mit dem Blick aufs Meer, den Sie so lieben.“
„Wundervoll! Ich gehe gleich hinauf und stelle mein Gepäck ab. Und ihr gebt inzwischen der Hausmutter eure Gesundheitszeugnisse“, wandte sich Dolly an die Mädchen. „In fünf Minuten bin ich wieder bei euch.“
Dolly sprang die Stufen hinauf, als sei sie erst zwölf und im ersten Jahr in Möwenfels. Für Augenblicke vergaß sie, daß sie jetzt erwachsen und als Respektsperson auf der Burg war – und nicht mehr als übermütige Schülerin. Dort war der Schlafsaal der Ersten! Die Tür stand weit offen – noch war er leer. Dolly betrat das Zimmer und sah sich um. Hier hatte sich nichts verändert. Die Abendsonne schien in den großen freundlichen Raum mit den zehn blütenweiß bezogenen Betten mit fröhlich gemusterten Daunendecken darauf, die durch Vorhänge voneinander getrennt waren. Neben jedem Bett stand ein weißer Kleiderschrank, und an der Wand gegenüber für jedes der Mädchen eine Kommode. Die Waschbecken waren an der Schmalseite des Raumes untergebracht.
Dolly trat ans Fenster. Dies war der Augenblick, auf den sie sich schon so lange gefreut hatte: der erste Blick über die Klippen hinunter zum Meer! Dort unten – das in die Felsen eingehauene Schwimmbecken! Was hatte sie dort alles erlebt! Mitternachtspartys, Wettkämpfe, Fröhlichkeit und Streit – ein Buch könnte sie füllen mit den Erlebnissen dort unten! Dolly war es, als wenn die Stimmen ihrer Mitschülerinnen zu ihr heraufschallten. Als ob sie im Schlafsaal hinter jedem Vorhang flüsterten. Alice und Jenny, die ewig weinerliche Evelyn. Susanne Hoppe, ihre beste Freundin. Und die kleine Marlies, die so schrecklich schüchtern war. Die Zwillinge Ruth und Conny. Will und Clarissa, die beiden Pferdenärrinnen…
„Hallo Dolly! Da bin ich!“
„Vivi! Euch hätte ich über dem Trubel beinah vergessen!“ Dolly war aus ihren Träumen hochgeschreckt und wandte sich der zierlichen Vivi zu, der Schwester ihrer Freundin Susanne. „Hattet ihr eine gute Fahrt? Ist Felicitas mit dem Wagen zurechtgekommen?“
„Klar! Es ging prima! Nur einmal hat sie auf einer Kreuzung den Motor abgewürgt, aber das war nicht schlimm, ein netter junger Mann hat uns geholfen.“
„Ein netter junger Mann? Soso!“
„Hier sind übrigens deine Autoschlüssel. Feli ist mit dem Bus weitergefahren.“
„Danke. Aber das wäre nicht nötig gewesen, sie hätte mir das Auto doch auch morgen bringen können.“ Vivi grinste.
„Ich glaube, sie war froh, daß sie es los war, ehe was damit passierte. Sie hatte ganz schön Lampenfieber vor ihrer ersten langen Fahrt.“
„Das hatte ich damals auch, als ich gerade meinen Führerschein
Weitere Kostenlose Bücher