Dolly - 10 - Wiedersehen auf der Burg
die erste Klasse“, sagte der Chauffeur und griff nach den beiden größten Koffern.
„Fein, dann werde ich dir jetzt deinen Schlafsaal zeigen. Ich fürchte, du wirst Schwierigkeiten mit dem Platz in deinem Schrank bekommen, Olivia. Auf so viel Gepäck sind wir hier nicht eingerichtet. Willst du nicht einen Teil der Sachen wieder mit nach Hause geben?“
„Aber das sind doch Monate bis Weihnachten!“ antwortete das Mädchen entsetzt und schüttelte seine Lockenmähne. „Ich brauche die Sachen!“
„Nun – wie du meinst. Wenn du diesen Koffer noch nimmst, trage ich den Rest, dann schaffen wir’s mit einem Mal.“
Dolly ergriff zwei der Koffer und ging Olivia und ihrem Chauffeur voraus. Armes Mädchen! Sie würde es nicht leicht haben. Wenn ihre zukünftigen Mitschülerinnen diesen Aufmarsch sahen, würden sie mit ihrem Spott nicht zurückhalten!
Zum Glück läutete es in diesem Augenblick zum Essen. Die Schülerinnen stürmten die Treppe hinunter zum Speisesaal und nahmen von der kofferbepackten Karawane kaum Notiz. Nur hin und wieder drehte sich eine um und kicherte.
Dolly stieß die Tür zum Schlafsaal auf und ließ Olivia eintreten.
„Was denn!? Mit so vielen Mädchen soll ich in einem Raum schlafen?“ fragte Olivia entsetzt.
„Nun, was hast du denn gedacht?“
„Ich – ich glaubte, man wäre zu zweit – oder höchstens zu dritt! Das ist doch schon schlimm genug!“
„Meinst du? Ich glaube eher, du hast nur Angst davor, weil du es nicht kennst. Du wirst sehen, wie lustig es in so einem Schlafsaal zugeht! Und nach ein paar Monaten wirst du es gar nicht mehr anders haben wollen – und dein Zimmer zu Hause gräßlich langweilig finden. Hier ist dein Bett, dort der Schrank – und da drüben deine Kommode. Jetzt pack schnell das Nachtzeug und deine Waschsachen aus, wasch dir die Hände und komm zum Essen. Geh nur dem Lärm nach, dann kannst du den Speisesaal nicht verfehlen. Und bring der Hausmutter dein Gesundheitszeugnis mit, das ist sehr wichtig, hörst du?“
Olivia nickte. Sie schien immer noch geschockt von dem Gedanken, mit so vielen Mädchen in einem Schlafsaal zu liegen. Der Chauffeur verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung und ging. Sein Gesicht verriet nichts, dennoch war es Dolly, als ob ein kleines schadenfrohes Lächeln um seine Mundwinkel zuckte.
Dolly nickte Olivia noch einmal aufmunternd zu und verließ das Zimmer. Sie hatte Hunger und freute sich auf die vergnügte Tischrunde am ersten Abend.
„Es tut mir leid, daß ich zu spät komme“, sagte sie, als sie an ihren Tisch trat. „Aber ich habe mich noch um eine Nachzüglerin kümmern müssen. Sie wird gleich herunterkommen. Was gibt’s denn heute Gutes?“
„Gebackenen Schinken und verschiedene Salate. Und hinterher Schokoladeneis!“ berichtete Olly strahlend und stopfte sich einen großen Bissen in den Mund.
„Wenn du immer so viel ißt, werden wir dich an einen anderen Tisch versetzen lassen!“ mahnte Vivi. „Für Dolly ist ja fast nichts mehr übrig!“
„Ihr Problem – wenn sie zu spät kommt!“ meinte Olly gleichmütig.
Dolly schluckte eine bissige Bemerkung hinunter. Erst allmählich wurde ihr klar, was es bedeutete, Erzieherin zu sein. Erzieherin von Mädchen aus den unterschiedlichsten Elternhäusern. Streng erzogene, verwöhnte Einzelkinder und Kinder mit viel Geschwistern. Kinder, deren Eltern berufstätig waren und sich kaum um ihre Sprößlinge kümmern konnten. Andere, die nach Möwenfels gekommen waren, weil man zu Hause nicht mit ihnen fertig wurde.
Was verbarg sich zum Beispiel hinter Susanne Kappmanns Verschlossenheit? Und was hinter der fahrigen, lebhaften Olly – die jetzt gerade unter den Tisch tauchte, einer Gabel nach, die sie auf den Boden katapultiert hatte. Was mit einem Mädchen wie Olivia los war, das sah man auf den ersten Blick. Aber gerade sie verdiente Mitleid – denn was waren das für Eltern, die ein Kind zu so falschen Maßstäben erzogen! Wo blieb sie überhaupt?
„Olly – willst du mir einen Gefallen tun?“ fragte Dolly. Olly trennte sich nur ungern von ihrem Teller.
„Was denn?“ fragte sie, ohne das Essen zu unterbrechen.
„Geh rauf in euren Schlafsaal und hol eure Kameradin Olivia herunter. Ich glaube, sie fürchtet sich, sie war bisher immer allein.“
„Okay.“ Sehr begeistert klang es nicht, aber Olly erhob sich gehorsam. „Aber paßt auf meinen Teller auf!“
„Machen wir – wir werden ihn verteidigen wie einen kostbaren Schatz.“
Nach einer Weile erschien
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