Dolly - 10 - Wiedersehen auf der Burg
schönste!“
„Ach, das ist doch nicht so wichtig“, murmelte das Mädchen
abweisend.
„Nun – wichtig vielleicht nicht. Aber ein Grund, sich jeden Tag zu
freuen. An dem herrlichen Blick aufs Meer zum Beispiel, wenn du im
Nordturm wohnst. Nun – du wirst es ja bald selbst sehen.“
Susanne! dachte Dolly, als sie auf den Flur hinaustrat. Merkwürdig.
Als sie selbst in die erste Klasse nach Möwenfels kam, hatte es auch
eine Susanne gegeben, die kühl und abweisend war und einen
heimlichen Kummer mit sich herumschleppte. Später war diese
Susanne Dollys beste Freundin geworden – und sie war es heute noch,
auch wenn sie sich zur Zeit nur selten sehen konnten, denn Susanne
studierte in einer anderen Stadt. Dafür würde jetzt Vivi, Susannes
kleine Schwester, zum erstenmal nach Möwenfels kommen. Die Abfahrt rückte näher. Dolly ging noch einmal zum Bahnsteig,
um die Nachzügler zur Eile anzutreiben. Schwitzend und stolpernd
hastete noch ein Elternpaar heran, in der Mitte ein rundliches
Mädchen mit dicken roten Zöpfen. Ihnen folgte eine Schar jüngerer
Kinder, alle mit den gleichen brandroten Haaren und runden dunklen
Augen. Dolly half dem Mädchen in den Zug und schob ihren Koffer
hinterher. Eltern und Geschwister des Mädchens schrien
durcheinander, Abschiedsgrüße, Ermahnungen – es war ein
Höllenlärm. An den Zugfenstern drückten sich die Schülerinnen die
Nasen platt, um zu sehen, was es dort gab.
„Hast du alles? Hast du auch nichts vergessen, Olly?“ schrie die
Mutter.
„Natürlich hat sie die Hälfte vergessen, sie vergißt doch immer
alles!“ raunzte der Vater dazwischen.
„Woher soll ich das jetzt schon wissen – wo ich doch noch gar nicht
ausgepackt habe!“ kreischte Olly dagegen an.
Ihre Geschwister beschränkten sich darauf, im Chor „Olly! Olly!“
zu brüllen und ihr zwischendurch die Zunge herauszustrecken. Dolly
machte dem Theater ein Ende, indem sie in den Zug sprang und die
Tür energisch hinter sich zuschlug. Das Abfahrtssignal schrillte über
den Bahnsteig, der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Ollys
Familie lief im Gänsemarsch nebenher, in den Händen flatterten Taschentücher. Andere Eltern, die ihre Töchter ebenfalls zum Zug begleitet hatten, wurden rücksichtslos zur Seite gedrängt. Olly riß sich ihre Mütze vom Kopf, um damit zu winken, blieb damit an der Notbremse hängen und hätte um ein Haar den Zug wieder zum Stehen
gebracht, hätte Dolly nicht geistesgegenwärtig eingegriffen. „He! Bist du immer so stürmisch?“ fragte sie kopfschüttelnd. „Oh, Verzeihung!“ Olly wurde rot. „Zu dumm, aber mir passieren
dauernd solche Sachen…“
„Prost Mahlzeit!“ murmelte Dolly. „Du kommst in die erste
Klasse?“
„Ja – und in den Nordturm“, antwortete Olly fröhlich und setzte
sich ihre Mütze mit energischem Schwung wieder auf den Kopf,
wobei sie einem hinter ihr stehenden Mädchen die Brille von der Nase
wischte.
„Na dann komm – ich bring dich auf deinen Platz, eh du noch
einmal die Notbremse erwischst. Im dritten Abteil findest du deine
zukünftigen Mitschülerinnen. Vorsicht!“
Die Warnung kam zu spät. Olly hatte ihren Koffer so
temperamentvoll gegen die Schwingtür gestoßen, daß Fräulein Sauer,
die dahinter gestanden hatte, drei Meter durch den Gang segelte und in
den Armen des Schaffners landete. Dolly schloß die Augen, was nun
kam, mußte fürchterlich sein! Aber sie hatte sich getäuscht. Die
Fürsorge des erschrockenen Schaffners lenkte Fräulein Sauers
Aufmerksamkeit ganz auf diesen ansehnlichen Kavalier. So blieb der
erwartete Entrüstungssturm aus. Dolly packte ihren Schützling und
schob den Unglückswurm ins Abteil.
„Wie heißt du mit Nachnamen, Olly?“ erkundigte sich Dolly
seufzend.
„Mein richtiger Name ist Olgamaria Jürgenson. Ich bin zwölf Jahre
alt und…“
„Das genügt erst mal, Olly, danke!“ Dolly zog die Liste ihrer
Schützlinge aus der Jackentasche und hakte den letzten Namen ab.
„Willst du mir einen Gefallen tun, Olly? Bleib ganz ruhig hier sitzen
und entspanne dich! Dann kann nichts passieren.“
Hinter Dolly erschien das Gesicht von Fräulein Pott. Interessiert betrachtete die alte Lehrerin die junge Mannschaft, die heute zum erstenmal nach Burg Möwenfels kam.
Fräulein Sauer segelte durch den Gang und landete in den Armen des Schaffners
„Sie sind alle da“, berichtete Dolly und händigte Pöttchen die Liste aus. „Keiner hat den Zug verpaßt, keiner ist krank geworden.“ „… und keiner wieder
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