Dolly - 18 - Sag ja, Dolly!
nun schlicht weiß gestrichen, und auch die neuen Lampen zeigten eine modernere, klare Form. Vor allem fehlten die zahlreichen Erinnerungsstücke im Regal, an den Wänden und auf den Fensterbrettern. Nur ein großer Blumenstrauß zierte ihren Schreibtisch, bunt wie die Felder und Wiesen draußen. Den einzigen Wandschmuck bildete eine kleine Galerie von Kinderfotos aus Kathrinchens dreijährigem Leben, und ihrem Schreibtisch genau gegenüber hing ein großes Porträt der von Dolly so verehrten Vorgängerin.
Dolly stand auf und ging zum Fenster. Meer und Land lagen im strahlenden Sonnenlicht, weit draußen auf dem Wasser zogen ein paar Fischerboote vorbei, Heimkehrer vom nächtlichen Fang. Auf dem Klippenweg galoppierte eine Reiterin heran, grüßte lachend zu ihr herauf und war hinter der Mauer verschwunden. Clarissa, die einst mit ihr auf Burg Möwenfels Schülerin gewesen war und nun gemeinsam mit Will die Reitschülerinnen des Möwennestes betreute. Es klopfte.
„Ja, bitte!”
Ellen öffnete die Tür und schob die zehn Neuen aus dem Nordturm herein. Dolly betrachtete sie lächelnd, wie sie – je nach Temperament
– sie scheu, ehrfürchtig oder selbstbewußt musterten und sich neugierig im Zimmer umschauten.
„Ich möchte euch erst einmal kennenlernen”, sagte Dolly herzlich und schüttelte dem ersten Mädchen die Hand. „Ich bin eure Direktorin Dolly Schwarze. Und wer bist du?”
„Melanie Hoppe”, antwortete das Mädchen. Sie hatte ein offenes, sonnengebräuntes Gesicht und dunkle, kurzgeschnittene Haare. „Ich bin zwölf Jahre alt, und ich habe mir so sehr gewünscht, auf die Burg in den Nordturm zu kommen, denn meine Mutter war früher auch hier.”
„Dann weißt du ja schon gut Bescheid, sie hat dir sicher viel von der Burg erzählt. Und wofür interessierst du dich besonders?”
„Sport. Vor allem Schwimmen. Und ich lese gern.”
„Na, da wirst du bei uns sicher voll auf deine Kosten kommen. Ich werde dir mal im Schwimmbad zuschauen, Melanie. Und wer bist du?”
Dolly nahm sich für jedes der Mädchen Zeit. Sie prägte sich Gesicht und Namen ein und versuchte, sich die Besonderheiten zu merken.
„So. Wir haben uns nun ein bißchen kennengelernt”, sagte sie schließlich, „und ich möchte, daß ihr mir für einen Augenblick gut zuhört, denn was ich euch jetzt sagen werde, ist mir sehr wichtig, versteht ihr?”
Die Mädchen nickten und sahen sie voller Erwartung an. Sekundenlang spürte Dolly leichtes Herzklopfen. Dies war ein Augenblick, der ihr sehr naheging, nicht nur, weil sie sich selbst dort stehen sah, zwölf Jahre alt und das Herz voller schwärmerischer Begeisterung für die Frau mit den so unglaublich leuchtenden blauen Augen – ihre zukünftige Direktorin. Würde auch sie vor den Augen der Mädchen bestehen?
„Vor einem Jahr”, begann Dolly, „stand an dieser Stelle noch jene Dame, die ihr dort auf dem Gemälde seht. Frau Direktor Greiling. Und vor vielen Jahren stand ich so vor ihr, wie ihr jetzt vor mir. Sie hat mir die Worte mitgegeben, die auch ich euch mitgeben möchte, denn die Gedanken, die sie ausdrücken, sind heute so gültig wie damals.” Dolly warf einen Blick auf das Porträt. Es schien ihr, als sähe Frau Greiling ihr lächelnd in die Augen. „Eines Tages”, wandte sie sich an die Mädchen, „werdet ihr diese Schule verlassen. Dann sollt ihr einen hellen Verstand und ein freundliches Herz mit euch nehmen…”
Der Traum! fuhr es Dolly durch den Kopf. Der Traum, den sie vor einem Jahr im Schwimmbad gehabt hatte – heute hatte er sich erfüllt! Und während sie lächelnd weitersprach, war es ihr, als höre sie über ihrer eigenen eine andere Stimme mitschwingen und die vertrauten Worte sprechen. War das nicht die kleine Dolly, die dort vor ihr stand? Und sie selbst die weißhaarige alte Dame?
„… unser Stolz sind die Schülerinnen, die gelernt haben, freundlich und hilfsbereit zu sein, liebenswerte Menschen, auf die in jeder Beziehung Verlaß ist.”
Und es war ihr, als sage die kleine Dolly zu der Direktorin des Landschulheims Burg Möwenfels: Ich verspreche es. Sie sollen stolz auf mich sein können, Frau Greiling.
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