Dolores
können, aber sie gab ihm nie Gelegenheit dazu.
In ihrem ersten Schuljahr gehörte sie zu den Klassenbesten, aber sie verlor nie - wie die meisten Kinder - das Interesse an dem, was daheim vorging. Die meisten Jungen und Mädchen von dreizehn oder vierzehn halten jeden, der über dreißig ist, für einen alten Spinner, und verschwinden spätestens zwei Minuten, nachdem die Spinner ins Haus gekommen sind. Aber nicht Selena. Sie brachte Kaffee oder half beim Abwaschen oder was sonst gerade zu tun war, und dann ließ sie sich auf dem Stuhl neben dem Kaminofen nieder und hörte zu, wie sich die Erwachsenen unterhielten. Ob nun ich das war mit ein oder zwei meiner Freundinnen oder Joe mit drei oder vier von seinen Kumpanen, sie hörte zu. Wenn ich es ihr erlaubt hätte, wäre sie sogar dabeigeblieben, wenn er und seine Freunde Poker spielten. Aber das tat ich nicht, weil sie so unflätig daherredeten. Dieses Kind knabberte Unterhaltungen, wie eine Maus eine Käserinde knabbert; und was sie nicht verzehren konnte, das lagerte sie ein.
Dann änderte sie sich. Ich weiß nicht, wann die Veränderung einsetzte, aber ich bemerkte es zum ersten Mal kurz nach Beginn ihres zweiten Schuljahres. Gegen Ende September, würde ich sagen.
Zuerst fiel mir auf, daß sie nicht mehr mit der frühen Fähre heimkam, wie sie es im Vorjahr nach Schulschluß gewöhnlich getan hatte. Das hätte sich als praktisch erwiesen - sie konnte ihre Hausaufgaben machen, bevor die Jungen erschienen, und. dann ein bißchen saubermachen oder das Essen aufsetzen. Anstelle mit der Fähre um zwei kam sie jetzt mit der, die um viertel vor fünf vom Festland ablegte.
Als ich sie danach fragte, sagte sie, sie machte ihre Hausaufgaben lieber nach Schulschluß im Lesesaal; das wäre alles. Dabei warf sie mir einen merkwürdigen kleinen Seitenblick zu, der besagte, daß sie darüber nicht reden wollte. Mir war, als sähe ich Scham in diesem Blick und vielleicht auch eine Lüge. Diese Dinge beunruhigten mich, aber ich beschloß, nicht weiter in sie zu dringen, bis ich ganz sicher war, daß etwas nicht stimmte. Mit ihr zu reden, war schwierig geworden, müßt ihr wissen. Ich spürte die Distanz, die sich zwischen uns ergeben hatte, und ich konnte mir recht gut vorstellen, worauf das zurückzuführen war: auf Joe, der mit blutendem Ohr in seinem Sessel saß, während ich mit dem Beil vor ihm stand. Und zum ersten Mal wurde mir klar, daß er wahrscheinlich mit ihr darüber gesprochen hatte und auch über andere Dinge. Denen er natürlich seinen eigenen Dreh gegeben hatte.
Mir war klar, wenn ich Selena mit der Frage, warum sie so lange in der Schule blieb, zu sehr zusetzte, dann würde sich das Verhältnis zwischen uns noch weiter verschlechtern. Alles, was mir an weiteren Fragen einfiel, hörte sich an wie: Was hast du nur angestellt, Selena? Und wenn sich das schon für mich, eine Frau von fünfunddreißig, so anhörte, wie mochte es sich dann für ein noch nicht einmal fünfzehnjähriges Mädchen anhören? Es ist schwer, mit Kindern in diesem Alter zu reden; man muß auf Zehenspitzen um sie herumschleichen wie um ein Glas mit Nitroglyzerin auf dem Fußboden.
Nun, kurz nach Beginn des neuen Schuljahres haben sie etwas, das sie Elterntag nennen, und ich richtete es so ein, daß ich hinüberfahren konnte. Bei Selenas Klassenlehrerin ging ich nicht um den heißen Brei herum, wie ich es bei Selena selbst getan hatte; ich ging schnurstracks zu ihr und fragte sie, ob sie irgendeinen besonderen Grund dafür wüßte, weshalb Selena in diesem Jahr erst mit der späten Fähre heimkam. Die Klassenlehrerin sagte, das wüßte sie auch nicht; sie vermutete aber, Selena täte es, damit sie ihre Hausaufgaben machen konnte. Nun, ich dachte, sagte es aber nicht, daß sie im vorigen Jahr ihre Hausaufgaben ungestört an dem kleinen Schreibtisch in ihrem Zimmer gemacht hatte; was also hatte sich geändert? Ich hätte es vielleicht gesagt, wenn ich geglaubt hätte, daß diese Lehrerin irgendwelche Antworten für mich gehabt hätte, aber es war ziemlich klar, daß sie keine hatte. Vermutlich war sie selbst in dem Moment zur Tür hinaus, in dem die letzte Glocke des Tages geläutet hatte.
Auch die anderen Lehrer konnten mir nicht weiterhelfen. Ich hörte mir an, wie sie Selena in den höchsten Tönen lobten, was mir ganz und gar nicht schwerfiel, und dann kehrte ich nach Hause zurück mit dem Gefühl, keinen Schritt weiter zu sein als bei der Überfahrt von der Insel zum Festland.
Auf
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