Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
nicht sehen, wie ich weitermachen sollte. Und der Gedanke, der mir immer wieder durch den Kopf ging, war: Anscheinend hast du dich geirrt, Dolores. Anscheinend hast du doch an Joe und die Kinder gedacht. Und natürlich hatte ich das. Inzwischen war ich so weit, daß ich an nichts anderes mehr denken konnte, und das genau war der Grund dafür, daß ich dasaß und heulte. Ich weiß nicht, wie lange ich so geheult habe, aber ich weiß, daß ich, als es endlich aufhörte, das ganze Gesicht voller Rotz hatte und meine Nase verstopft war und ich so außer Atem war, als hätte ich einen Dauerlauf hinter mir. Ich hatte Angst, meine Schürze wegzunehmen, weil ich damit rechnete, daß, wenn ich es tat, Vera sagen würde: »Das war wirklich eine tolle Vorstellung, Dolores. Sie können sich am Freitag Ihren letzten Lohn abholen. Kenopensky« - ja, so hieß er, Andy, jetzt endlich ist es mir wieder eingefallen - »wird Sie auszahlen.« Das wäre genau ihre Art gewesen. Nur, daß im Grunde alles mögliche ihre Art war. Was Vera tun würde, konnte man nie vorhersehen, selbst damals nicht, als sie noch bei klarem Vertand war.
    Als ich endlich die Schürze vom Gesicht nahm, saß sie da beim Fenster mit dem Strickzeug im Schoß und musterte mich, als wäre ich irgendein neuer und interessanter Käfer. Ich erinnere mich an die unheimlichen Schatten, die der an den Fensterscheiben herabrinnende Regen auf ihre Wangen und ihre Stirn warf.
    »Dolores«, sagte sie, »bitte sagen Sie mir, daß Sie nicht so unvorsichtig waren, sich von diesem widerlichen Kerl, mit dem Sie zusammenleben, wieder anbuffen zu lassen.«
    Eine Sekunde lang hatte ich nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete - als sie »anbuffen« sagte, schoß mir die Erinnerung an den Abend durch den Kopf, an dem Joe mich mit dem Holzscheit geschlagen hatte und ich ihn mit dem Sahnekrug. Dann klickte es, und ich begann zu kichern. Ein paar Sekunden später lachte ich so heftig, wie ich vorher geweint hatte, und ich konnte dagegen ebenso wenig tun wie gegen das andere. Ich wußte, daß es überwiegend Grausen war - der Gedanke, wieder von Joe schwanger zu sein, war so ungefähr das Schlimmste, das ich mir vorstellen konnte, und die Tatsache, das wir das, wovon man schwanger wird, nicht mehr taten, änderte daran nicht das geringste -, aber daß ich wußte, warum ich lachte, half mir nicht, damit aufzuhören. 
    Vera musterte mich noch ein oder zwei Sekunden länger, dann hob sie ihr Strickzeug wieder hoch und machte in aller Seelenruhe weiter. Sie fing sogar wieder an zu summen. Man hätte fast meinen können, für sie wäre die Tatsache, daß ihre Haushälterin auf ihrem ungemachten Bett saß und heulte wie ein Kalb im Mondschein, die allernatürlichste Sache von der Welt. Wenn das so war, dann müssen die Donovans in Baltimore ziemlich merkwürdiges Personal gehabt haben.
    Nach einer Weile schlug das Lachen wieder in Weinen um, so, wie sich im Winter, wenn der Wind in die richtige Richtung dreht, Regen manchmal für kurze Zeit in Schnee verwandelt. Als schließlich gar nichts mehr kam und ich nur so dasaß auf ihrem Bett, war ich völlig ausgelaugt und schämte mich - aber irgendwie kam ich mir sauber vor. 
    »Es tut mir leid, Mrs. Donovan«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid.«
    »Vera«, sagte sie.
    »Wie bitte?« fragte ich.
    »Vera«, wiederholte sie. »Ich bestehe darauf, daß alle Frauen, die auf meinem Bett einen hysterischen Anfall haben, mich künftig beim Vornamen nennen.«
    »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.«
    »Oh«, erwiderte sie sofort, »ich glaube, das wissen Sie recht gut. Machen Sie sich sauber, Dolores - Sie sehen aus, als hätten Sie Ihr Gesicht in eine Schüssel mit püriertem Spinat gesteckt. Sie können mein Badezimmer benutzen.«
    Ich ging hinein, um mir das Gesicht zu waschen, und blieb lange Zeit darin. Die Wahrheit war, daß ich ein bißchen Angst vor dem Herauskommen hatte. Seit sie gesagt hatte, ich sollte sie Vera nennen anstatt Mrs. Donovan, glaubte ich nicht mehr, daß sie mich vor die Tür setzen würde - so verhält man sich nicht jemandem gegenüber, von dem man sich fünf Minuten später trennen will -, aber ich wußte nicht, was sie vorhatte. Sie konnte grausam sein; wenn euch das aus dem, was ich erzählt habe, nicht klargeworden ist, dann habe ich meine Zeit verschwendet. Sie konnte einem ganz schöne Püffe versetzen, wann und wo immer es ihr gefiel, und wenn sie es tat, dann waren sie gewöhnlich hart.
    »Sind Sie da

Weitere Kostenlose Bücher