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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Vers aus der Bibel. Er dröhnte in meinem Kopf wie eine große Eisenglocke: Wer eine Grube macht, der wird selbst drein fallen.
    Ich schrie und versuchte mich loszureißen, aber Joe hielt mich so fest, daß es sich anfühlte, als wäre seine Hand aus Zement. Meine Augen hatten sich inzwischen so weit an die Dunkelheit gewöhnt, daß ich ihn sehen konnte, obwohl das Licht der Taschenlampe in die falsche Richtung fiel. Er hatte es tatsächlich fast geschafft, im Brunnen hochzuklettern. Gott weiß, wie oft er wieder runtergestürzt war, aber schließlich hatte er es fast bis zum Rand geschafft. Ich nehme an, wenn ich nicht in diesem Moment zurückgekommen wäre, hätte er es vielleicht ganz geschafft.
    Sein Kopf war nur ungefähr einen halben Meter unter dem, was von der Abdeckung übrig war. Er grinste immer noch. Sein Gebiß war ein Stückchen aus seinem Mund rausgerutscht - ich sehe es noch so deutlich vor mir, wie ich jetzt sehe, daß du mir gegenübersitzt, Andy -, und wie er mich so angrinste, sah es aus wie Pferdezähne. Ein paar davon waren schwarz von dem Blut, das auf ihnen war.
    »Doh-lorrr-isss«, keuchte er und zerrte weiter an mir. Ich schrie und fiel aufs Kreuz und rutschte immer näher an dieses verdammte Loch heran. Ich konnte hören, wie die Dornen der Brombeersträucher knackten, als meine Jeans an ihnen entlangglitten. »Doh-lorrr-isss, du Miststück«, sagte er, aber mir kam es eher so vor, als sänge er. Ich erinnere mich, daß ich gedacht habe: Gleich fängt er an, Moonlight Cocktail zu singen.
    Ich griff nach den Sträuchern und bekam die Hände voll von Dornen und frischem Blut. Ich trat mit dem Fuß, den er nicht festhielt, nach seinem Kopf, aber ich konnte ihn nicht treffen, weil er noch ein bißchen zu weit unten war; ich berührte ein paarmal mit dem Absatz meines Schuhs sein Haar, aber das war auch alles.
    »Los, komm, Doh-lorr-iss«, sagte er, als wollte er mich zu einem Eiscremesoda einladen oder vielleicht auch zum Tanzen bei Country- und Westernmusik drüben bei Fudgy’s.
    Mein Hintern stieß gegen eines der Bretter, die noch an der Kante des Brunnens lagen, und ich wußte, wenn ich nicht sofort etwas unternahm, würden wir zusammen hinunterstürzen, und da würden wir bleiben, vermutlich eng umschlungen. Und wenn wir gefunden wurden, dann würde es Leute geben - vor allem Schwachköpfe wie Yvette Anderson -, die sagten, das zeigte nur, wie sehr wir einander geliebt hätten.
    Das gab den Ausschlag. Ich nahm all meine Kraft zusammen und ruckte ein letztes Mal zurück. Fast hätte er mich gehalten, doch dann glitt seine Hand ab. Mein Schuh muß ihn ins Gesicht getroffen haben. Er schrie, seine Hand traf mehrmals die Kante meines Fußes, dann war sie endgültig weg. Ich wartete darauf, zu hören, wie er wieder hinunterstürzte, aber er tat es nicht. Dieser Mistkerl gab einfach nicht auf; wenn er so gelebt hätte, wie er gestorben ist, dann hätte es zwischen uns beiden vermutlich nie Probleme gegeben.
    Ich kam auf die Knie und sah, wie er über dem Loch nach hinten schwankte - aber irgendwie hielt er sich fest. Er schaute zu mir hoch, schüttelte ein blutiges Haarbüschel aus den Augen und grinste. Dann kam wieder seine Hand aus dem Brunnen und krallte sich in die Erde.
    »Dol-OOH-riss«, stöhnte er, »Dol-OOOH-riss, DolOOOHriss, Dol-OOOOOOHHH-risss!« Und dann fing er an, herauszuklettern.
    Schlag ihn tot, du dumme Kuh, sagte Vera Donovan. Nicht in meinem Kopf, wie die Stimme des kleinen Mädchens, das ich eine Weile zuvor gesehen hatte. Versteht ihr, was ich damit sagen will? Ich hörte diese Stimme, genau wie ihr drei jetzt mich hört, und wenn Nancy Bannisters Tonbandgerät da draußen gewesen wäre, dann hättet ihr diese Stimme wieder und wieder abspielen können. Das weiß ich so sicher, wie ich weiß, wie ich heiße.
    Wie dem auch sei, ich griff nach einem der Steine, mit denen der Brunnenrand eingefaßt ist. Er versuchte, nach meinem Handgelenk zu greifen, aber ich bekam den Stein frei, bevor er zufassen konnte. Es war ein großer Stein, mit trockenem Moos verkrustet. Ich hob ihn über den Kopf. Er sah zu ihm auf. Inzwischen war sein Kopf aus dem Loch heraus, und es sah aus, als säßen seine Augen auf Stielen. Ich ließ den Stein mit all meiner Kraft niederfahren. Ich hörte, wie sein Gebiß zerbrach. Es klang ungefähr so, wie wenn man einen Porzellanteller auf einen Ziegelsteinboden fallen läßt. Und dann war er weg, stürzte wieder hinunter in den Brunnen, und der Stein

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