Dolores
machten.
In dieser Nacht schlief ich nicht gut; ich hatte grauenhafte Träume. Einer betraf Joe. Er stand auf dem Grund des Brunnens und schaute zu mir hoch mit seinem weißen Gesicht und diesen dunklen Flecken über seiner Nase, die so aussahen, als hätte er sich große Kohlebrocken in die Augen gesteckt. Er sagte, er wäre einsam, und bat mich, zu ihm runterzukommen und ihm Gesellschaft zu leisten.
Der andere Traum war schlimmer, weil er Selena betraf. Sie war ungefähr vier Jahre alt und trug das rosa Kleid, das ihre Großmutter Trisha ihr geschenkt hatte, kurz bevor sie starb. Selena kam zu mir auf den Hof, und ich sah, daß sie meine Schneiderschere in der Hand hatte. Ich streckte meine Hand nach ihr aus, aber sie schüttelte nur den Kopf. »Es ist meine Schuld, und ich bin es, die dafür zahlen muß«, sagte sie. Dann hob sie die Schere vors Gesicht und schnitt sich damit die Nase ab. Sie fiel zwischen ihren kleinen schwarzen Lackschuhen auf den Boden, und ich wachte schreiend auf. Es war erst vier Uhr, aber mit dem Schlafen war es für diese Nacht vorbei, und ich war nicht zu blöd, um das zu begreifen.
Um sieben rief ich wieder bei Vera an. Diesmal meldete sich ihr Ungar - Kenopensky. Ich sagte ihm, ich wüßte, daß Vera an diesem Morgen mit mir rechnete, aber ich könnte nicht kommen, jedenfalls nicht, bevor ich wüßte, wo mein Mann steckte. Ich sagte, er wäre zwei Nächte nicht nach Hause gekommen, und bisher wäre er, wenn er getrunken hatte, nie länger als eine Nacht ausgeblieben.
Gegen Ende unseres Gesprächs meldete sich Vera auf dem Nebenanschluß und fragte, was los wäre. »Es sieht so aus, als wäre mein Mann abhanden gekommen«, sagte ich.
Ein paar Sekunden lang sagte sie gar nichts, und ich hätte liebend gern gewußt, was sie dachte. Schließlich sagte sie, wenn sie an meiner Stelle wäre, würde sie sich wegen eines abhandengekommenen Joe St. George nicht den Kopf zerbrechen.
»Immerhin«, sagte ich, »haben wir drei Kinder, und irgendwie habe ich mich an ihn gewöhnt. Falls er auftauchen sollte, komme ich noch.«
»Gut«, sagte sie, und dann: »Sind Sie noch da, Ted?«
»Ja, Vera«, sagte er.
»Dann gehen Sie los und tun Sie etwas Männliches«, sagte sie. »Schlagen Sie was ein oder kippen Sie was um egal was.«
»Ja, Vera«, sagte er, und ich hörte ein leises Klicken, als er den Hörer auflegte.
Trotzdem schwieg Vera noch ein paar Sekunden. Dann sagte sie: »Vielleicht hatte er einen Unfall, Dolores.«
»Ja«, sagte ich, »das würde mich gar nicht wundern. Er hat in den letzten Wochen gesoffen wie ein Loch, und als ich am Tag der Finsternis versuchte, mit ihm über das Geld der Kinder zu reden, hätte er mich fast erwürgt.«
»Ach - wirklich?« sagte sie. Wieder vergingen ein paar Sekunden, und dann sagte sie: »Viel Glück, Dolores.«
»Danke«, sagte ich. »Ich kann es vermutlich brauchen.«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich etwas für Sie tun kann.«
»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte ich.
»Durchaus nicht«, erwiderte sie. »Ich möchte Sie nur nicht verlieren. Heutzutage ist es schwer, Personal zu finden, das den Dreck nicht unter die Teppiche kehrt.«
Ganz zu schweigen davon, daß es nicht vergißt, die Fußmatten richtig herum hinzulegen, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Ich dankte ihr nur und legte auf. Ich wartete eine weitere halbe Stunde, dann rief ich Garrett Thibodeau an. Damals gab es auf Little Tall nichts so Großartiges wie einen Polizeichef; Garrett war der Ortspolizist. Er übernahm das Amt, nachdem Edgar Sherrick 1960 seinen Schlaganfall gehabt hatte.
Ich sagte ihm, Joe wäre in den letzten beiden Nächten nicht nach Hause gekommen, und ich finge an, mir Sorgen zu machen. Garrett hörte sich ziemlich verschlafen an - ich glaube, er war noch nicht mal so lange auf, daß er schon seine erste Tasse Kaffee getrunken hatte -, aber er sagte, er würde die Staatspolizei auf dem Festland informieren und sich bei ein paar Leuten auf der Insel erkundigen. Ich wußte, das waren genau dieselben Leute, die ich schon angerufen hatte - manche von ihnen zweimal -, aber das sagte ich nicht. Garrett schloß damit, daß er sagte, er wäre sicher, daß Joe zum Mittagessen wieder da sein würde. Du hast gut reden, du alter Furz, dachte ich, als ich auflegte. Ich nehme an, dieser Mann hatte tatsächlich genügend Verstand, um auf dem Klo Yankee Doodle zu singen, aber ich bezweifle, daß er den ganzen Text zusammengekriegt hätte.
Es dauerte eine
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