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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ganze verdammte Woche, bevor sie ihn fanden, und bis dahin war ich halb verrückt geworden. Am Mittwoch kam Selena zurück. Ich hatte sie am Dienstagabend angerufen, um ihr zu sagen, daß ihr Vater vermißt wurde und es so aussah, als wäre es etwas Ernstes. Ich fragte sie, ob sie heimkommen wollte, und sie sagte ja. Melissa Caron - Tanyas Mutter, wie ihr wißt fuhr hin und holte sie. Die Jungen ließ ich da, wo sie waren - mit Selena fertigwerden zu müssen, reichte mir für den Anfang. Am Donnerstag, immer noch zwei Tage, bevor sie Joe endlich fanden, erwischte sie mich in meinem kleinen Gemüsegarten und sagte: »Mamma, ich habe eine Frage.«
    »Heraus damit, Liebling«, sagte ich. Ich glaube, meine Stimme hörte sich gelassen genug an, aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, was kommen würde.
    »Hast du ihm etwas getan?« fragte sie.
    Ganz plötzlich erinnerte ich mich an meinen Traum Selena in ihrem hübschen rosa Kleid, die meine Schneiderschere hebt und sich die Nase abschneidet. Und ich dachte: Oh Gott, bitte hilf mir, meine Tochter anzulügen. Bitte, Gott, ich werde dich nie wieder um etwas bitten, wenn du mir nur hilfst, meine Tochter so anzulügen, daß sie mir glaubt und niemals zweifelt. 
    »Nein«, sagte ich. Ich trug meine Gartenhandschuhe, aber ich zog sie aus, um ihr die bloßen Hände auf die Schultern zu legen. Ich schaute ihr tief in die Augen. »Nein, Selena«, sagte ich zu ihr. »Er war betrunken und gemein, und er hat mich so gewürgt, daß die Spuren an meinem Hals immer noch zu sehen sind, aber ich habe ihm nichts getan. Alles, was ich getan habe, war, daß ich fortgegangen bin, und das tat ich, weil ich Angst vor ihm hatte. Das kannst du doch verstehen, oder? Du verstehst es und machst mir keinen Vorwurf daraus? Du weißt doch, wie es ist, wenn man Angst vor ihm hat. Oder etwa nicht?«
    Sie nickte, aber ihre Augen ließen nicht von mir ab. Ihr Blau war dunkler, als ich es je gesehen habe - die Farbe des Ozeans vor einer Gewitterfront. Vor meinem inneren Auge sah ich die Schneiden der Schere aufblitzen und ihre kleine Nasenspitze in den Staub fallen. Und ich werde euch sagen, was ich glaube - ich glaube, daß Gott an diesem Tag mein Gebet zur Hälfte erhört hat. Dabei ist mir aufgefallen, daß das genau die Art ist, auf die er Gebete gewöhnlich erhört. Keine Lüge, die ich später über Joe erzählte, war auch nur einen Deut besser als die, die ich Selena an diesem heißen Julinachmittag zwischen den Bohnen und den Gurken erzählte - aber hat sie mir geglaubt? Geglaubt und nie gezweifelt?
    So gern ich mir einreden würde, daß die Antwort darauf ja lautet, weiß ich doch, daß es nein ist. Es war Zweifel, der ihre Augen so dunkel werden ließ, damals und seither immer.
    »Das Schlimmste«, sagte ich, »was ich mir vorzuwerfen habe, ist, daß ich ihm diese Flasche Schnaps gekauft habe. Daß ich ihn zu bestechen versuchte, damit er nett zu mir war. Ich hätte es besser wissen müssen.« 
    Sie musterte mich noch eine weitere Minute, dann bückte sie sich und hob den Korb mit den Gurken auf, die ich gepflückt hatte. »Okay«, sagte sie. »Ich bringe das ins Haus.«
    Und das war alles. Wir haben nie wieder darüber gesprochen, nicht bevor sie ihn fanden, und danach auch nicht. Sie muß eine Menge Gerede über mich gehört haben, sowohl auf der Insel als auch in der Schule, aber wir haben nie wieder darüber gesprochen. Aber es war dieser Nachmittag im Garten, an dem die Kälte zwischen uns zu treten begann. Und an dem der erste Riß in der Mauer zum Vorschein kam, den Familien zwischen sich und dem Rest der Welt errichten. Seither ist er immer breiter geworden. Sicher, sie ruft an und schreibt mir pünktlich wie eine Uhr, aber der Riß ist geblieben. Wir sind uns fremd geworden. Was ich getan habe, tat ich in erster Linie für Selena, nicht für die Jungen oder wegen des Geldes, das ihr Dad zu stehlen versucht hatte. Es war in erster Linie für Selena, daß ich seinen Tod herbeiführte; daß ich sie vor ihm zu schützen versuchte, kostete mich den tiefsten Teil ihrer Liebe zu mir. Ich habe einmal gehört, wie mein Dad sagte, daß Gott sich eine Last auferlegt hätte an dem Tag, an dem er die Welt erschuf, und im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, was er damit meinte. Und wißt ihr, was das Schlimmste daran ist? Manchmal ist es komisch. Manchmal ist es so komisch, daß man selbst dann lachen muß, wenn um einen herum alles in die Brüche geht.
    Inzwischen waren Garrett Thibodeau und

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