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Dolores

Dolores

Titel: Dolores Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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kleiner VWKäfer mit einem Schneepflug zusammenstieß. Nach seinem Tod übernahm Henry Briarton den Job. Wenn Henry schon damals der Country-Mann gewesen wäre, dann wäre mir vor unserem Gespräch an diesem Tag wesentlich wohler zumute gewesen. Briarton ist intelligenter, als der arme alte Garrett Thibodeau es war, aber nur um Haaresbreite. Aber John McAuliffe hatte einen Verstand wie das Licht, das von einem Leuchtfeuer ausgeht.
    Er war ein waschechter Schotte, der kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hier in der Gegend aufgetaucht war und immer noch mit einem dicken Akzent sprach. Er muß wohl amerikanischer Staatsbürger gewesen sein, weil er eine Praxis hatte und außerdem Amtsarzt war, aber er hörte sich weiß Gott nicht so an wie die Leute hier. Nicht, daß mir das etwas ausmachte; ich wußte, daß ich ihm die Stirn bieten mußte, ob er nun Amerikaner war oder Schotte oder Chinese.
    Er hatte schneeweißes Haar, obwohl er nicht älter gewesen sein kann als fünfundvierzig, und blaue Augen, die so hell und scharf waren, daß sie aussahen wie Bohrer. Wenn er einen ansah, hatte man das Gefühl, daß er einem direkt ins Hirn schaute und die Gedanken, die er dort vorfand, in alphabetische Reihenfolge brachte. Als ich ihn neben Garretts Schreibtisch sitzen sah und hörte, wie die Tür zum Rest des Rathauses hinter mir ins Schloß fiel, wußte ich, daß das, was am nächsten Tag drüben auf dem Festland passierte, nicht die geringste Rolle spielte. Die eigentliche Leichenschau fand hier in diesem winzigen Polizeibüro statt, mit einem Weber Oil-Kalender an der einen und einem Foto von Garretts Mutter an der anderen Wand.
    »Es tut mir leid, daß ich dich in deiner Trauer stören muß, Dolores«, sagte Garrett. Er rieb seine Hände gegeneinander, anscheinend nervös, und er erinnerte mich an Mr. Pease drüben in der Bank. Aber Garrett muß ein paar Schwielen mehr an den Händen gehabt haben; das Geräusch, das sie beim Gegeneinanderreiben machten, hörte sich an wie feines Sandpapier auf einem trockenen Brett. »Aber Dr. McAuliffe hier hat ein paar Fragen, die er dir gern stellen möchte.«
    An der unsicheren Art, wie Garrett den Doktor ansah, erkannte ich, daß er nicht wußte, was für Fragen das waren, und das jagte mir noch mehr Angst ein. Mir gefiel der Gedanke nicht, daß dieser schlaue Schotte die Angelegenheit für so schwerwiegend hielt, daß er seine Ansichten für sich behielt und dem armen alten Garrett Thibodeau keine Chance gab, irgendwas zu vermasseln.
    »Mein tiefstes Mitgefühl, Mrs. St. George«, sagte McAuliffe mit seinem dicken schottischen Akzent. Er war ein kleiner Mann, aber trotzdem kompakt und gut beieinander. Er hatte einen kleinen Schnurrbart, so weiß wie die Haare auf seinem Kopf, er trug einen dreiteiligen Anzug aus Wolle, und er hörte sich nicht nur nicht so an wie die Leute von hier, er sah auch nicht so aus wie sie. Diese blauen Augen bohrten sich unablässig in meine Stirn, und mir war klar, daß er mir, einerlei, was er behauptete, keine Spur von Mitgefühl entgegenbrachte. Und jemand anderem, sich selbst eingeschlossen, vermutlich auch nicht. »Ihr schmerzlicher Verlust tut mir sehr, sehr leid.«
    Klar, und wenn ich das glaube, dann wirst du mir noch etwas weismachen, dachte ich. Aber gleichzeitig beschloß ich, ihn unter keinen Umständen merken zu lassen, wieviel Angst ich vor ihm hatte. Vielleicht hatte er mich, aber vielleicht auch nicht. Ihr müßt bedenken es war durchaus möglich, daß er mir mitteilte, daß, als sie Joe auf welche Art auch immer aus dem Brunnen zogen, in seiner Nähe ein Stückchen weißes Nylon gefunden worden wäre; ein Fetzen von einem Damenunterrock. Das konnte sein, aber ich würde ihm trotzdem nicht die Genugtuung geben, mich unter seinen Augen zu winden. Und er war es gewohnt, daß sich die Leute wanden, wenn er sie ansah; es stand ihm gewissermaßen zu, und er mochte es.
    »Vielen Dank«, sagte ich.
    »Wollen Sie nicht Platz nehmen, Madam?« fragte er, als wäre es sein Büro und nicht das des armen, alten, verwirrten Garrett.
    Ich setzte mich, und er fragte, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er rauchte. Ich sagte, soweit es mich beträfe, wäre die Lampe angezündet. Er lachte leise, als hätte ich einen Witz gemacht - aber seine Augen lachten nicht. Er holte eine große, alte, schwarze Pfeife aus der Jackettasche und stopfte sie. Und selbst während er das tat, ließ er mich keine Sekunde aus dem Blick. Sogar nachdem er sie zwischen die

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