Dom Casmurro
Schlafzimmertür stand. Das Mädchen war nicht wirklich schön, vielleicht nicht einmal hübsch, die Haare fielen ihr wirr ins Gesicht, und die Tränen machten ihre Augen faltig. Dennoch war der Gesamteindruck rührend und ging mir zu Herzen. Der Pfarrer nahm der Kranken die Beichte ab, spendete ihr die Kommunion und die letzte Ölung. Das Weinen des Mädchens wurde so laut, dass ich spürte, wie meine Augen feucht wurden, weshalb ich flüchtete. Ich trat ans Fenster. Das arme Ding! Ihr Schmerz sprach Bände, und der Gedanke an meine Mutter machte es noch schlimmer. Als ich schließlich auch noch an Capitu dachte, verspürte ich ebenfalls den Drang zu schluchzen. Ich wollte mich gerade auf den Flur schleichen, da hörte ich jemanden sagen: «Weine nicht so!»
Capitus Bild begleitete mich, und meine Fantasie, die ihr gerade noch Tränen zugeschrieben hatte, zeichnete nun ein Lachen auf ihren Mund. Ich sah sie vor mir, wie sie auf die Mauer schrieb, mit mir redete und mit hocherhobenen Armen herumwirbelte; ich hörte ganz deutlich meinen Namen rufen, mit einer Sanftheit, die mich trunken machte, und es war ihre Stimme. Die brennenden Fackeln, zu diesem Anlass so düster, kamen mir nun wie ein Hochzeitslüster vo r … Was war ein Hochzeitslüster? Ich weiß es nicht; es war das Gegenteil des Todes, und mir fällt nichts ein außer einer Hochzeit. Diese neue Empfindung ergriff derart stark Besitz von mir, dass José Dias zu mir trat und mir ins Ohr raunte: «Lach nicht so!»
Ich wurde augenblicklich ernst. Der Moment des Aufbruchs war gekommen. Ich packte meine Stange, und da ich die Entfernung bereits kannte – denn nun kehrten wir zurück zur Kirche, was die Entfernung nochmals verringerte –, war das Gewicht der Stange sehr gering. Außerdem schien draußen die Sonne, die Straße war belebt, die Jungen in meinem Alter starrten mich neiderfüllt an, fromme Frauen traten ans Fenster oder knieten in den Korridoren nieder, wenn wir vorbeikamen, all dies erfüllte mein Herz mit neuerlichem Frohsinn.
Pádua hingegen wirkte noch gedemütigter. Obwohl ich es war, der ihn ersetzte, konnte er sich nicht mit der Kerze, der elenden Kerze abfinden. Auch wenn andere ebenfalls Kerzen trugen und genau die Haltung an den Tag legten, die der Anlass erforderte: Sie waren nicht fröhlich, aber auch nicht traurig. Man sah ihnen an, dass sie mit Würde einherschritten.
31
Capitus Neugierde
Alles war Capitu lieber als das Seminar. Statt sich wegen der bevorstehenden langen Trennung zu grämen, falls die Idee mit Europa Erfolg hätte, zeigte sie sich zufrieden. Und als ich ihr meinen Traum vom Kaiser erzählte, erwiderte sie: «Nein, Bentinho, den Kaiser sollten wir aus dem Spiel lassen. Halten wir uns zunächst an José Dias’ Versprechen. Wann gedenkt er mit deiner Mutter zu reden?»
«Er nannte keinen Tag, versprach lediglich, dass er zusehen und alsbald mit ihr reden werde. Ich hingegen solle mich an Gott wenden».
Capitu wollte, dass ich sämtliche Antworten unseres Hausfreundes, die Veränderungen in seinem Gestus und sogar die Pirouette wiedergäbe, von der ich ihr erzählt hatte. Auch der Ton, in dem er gesprochen hatte, interessierte sie. Sie achtete auf jedes Detail; meine Erzählung, unser Gespräch, alles schien sie in ihrem Kopf zu verarbeiten. Man könnte auch sagen, sie verglich, bewertete und verankerte meine Ausführungen in ihrem Gedächtnis. Dieses Bild ist vielleicht besser als das erste, aber wirklich gut ist keines. Capitu war Capitu, sprich, ein ganz besonderes Wesen, und sie war schon weit mehr Frau, als ich Mann war. Falls ich das noch nicht gesagt habe, so sage ich es jetzt. Und falls doch, bleibt es ebenfalls stehen. Es gibt Dinge, die müssen dem Leser durch die Kraft der Wiederholung eingeschärft werden.
Sie war auch neugieriger als ich. Capitus Neugierde reicht für ein ganzes Kapitel aus. Es war eine vielseitige Neugierde, mal erklärlich, mal unerklärlich, nützlich wie unnütz, ernsthaft wie oberflächlich; sie wollte einfach alles wissen. In der Schule, wo sie von ihrem siebten Lebensjahr an Lesen, Schreiben, Rechnen sowie Französisch, die Glaubenslehre und das Handarbeiten erlernt hatte, wurde ihr nicht beigebracht, wie man Spitzen klöppelte. Deshalb wollte sie, dass Base Justina es ihr zeigte. Latein hatte sie nur deshalb nicht mit Pater Cabral gelernt, weil der Pfarrer, nachdem er es ihr im Spaß vorgeschlagen hatte, einen Rückzieher machte, mit der Begründung, Latein sei keine Sprache
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