Dom Casmurro
niederzuschreiben, was ich in diesen schrecklichen Minuten empfand! Die Straße schien unter meinen Füßen hinwegzueilen, obwohl José Dias superlativisch langsam ging, die Häuser flogen zu beiden Seiten an mir vorbei, und das Horn, das in der Polizeikaserne ertönte, klang in meinen Ohren wie die Posaune des Jüngsten Gerichts.
Wir gelangten an die Praça dos Arcos und bogen in die Rua de Matacavalos ein. Unser Haus zählte nicht zu den ersten, sondern lag noch hinter dem Invalidenheim, ganz in der Nähe des Senats. Drei- oder viermal hatte ich meinen Begleiter ansprechen und fragen wollen, aber nicht gewagt, den Mund aufzumachen. Und nun hatte ich dieses Bedürfnis bereits nicht mehr. Ich lief einfach weiter, mich in das Schlimmste fügend, als wäre es des Schicksals Wille oder eine menschliche Notwendigkeit. Auf einmal flüsterte mir die Hoffnung, die die Angst besiegen wollte, ins Ohr – nicht mit diesen Worten, denn es waren keine Worte, sondern höchstens ein in diese Worte zu fassender Gedanke: «Wenn Mama tot ist, brauchst du nicht mehr ins Seminar.»
Lieber Leser, es war wie ein Blitz. So schnell, wie er das Dunkel erhellte, war er auch wieder erloschen, und die Nacht wurde noch finsterer, weil nun quälende Gewissensbisse hinzukamen. Es war ein zügelloser, egoistischer Einfall gewesen. Meine Kindesliebe hatte durch die Aussicht auf die sichere Freiheit, auf das Verschwinden von Schuld und Schuldner einen Moment lang ausgesetzt. Es war nur ein Augenblick gewesen, weniger als ein Augenblick, ein Hundertstel eines Augenblicks, doch genug, um meine Sorge durch die Reue noch zu verschlimmern.
José Dias seufzte. Einmal sah er mich so mitleidsvoll an, dass es mir schien, als habe er meine Gedanken erraten. Ich wollte ihn bitten, sie niemandem zu sagen, weil ich mich geißeln und ähnliche Buße tun würde. Doch sein Mitleid war so voller Liebe, dass es nicht Mitgefühl wegen meiner Sünde sein konnte. Dann war es also doch der Tod meiner Mutte r … Ich verspürte eine solche Angst, einen so großen Kloß im Hals, dass ich nicht mehr an mich halten konnte und in Tränen ausbrach.
«Was ist los, Bentinho?»
«Muss Mam a …?»
«Nein, nein! Wie kommst du denn darauf? Ihr Zustand ist äußerst ernst, aber nicht lebensgefährlich, und Gott vermag alles. Trockne deine Tränen, es ist nicht schön, wenn ein Junge in deinem Alter in der Öffentlichkeit weint. Es ist bestimmt nichts, nur ein Fiebe r … Und Fieber kommt mit Wucht, vergeht aber genauso schnell wiede r … Nicht mit den Fingern! Wo hast du denn dein Taschentuch?»
Ich trocknete mir die Tränen, doch von José Dias’ Worten waren nur zwei in meinem Gedächtnis hängengeblieben, nämlich «äußerst ernst». Ich erkannte später, dass er eigentlich nur «ernst» hatte sagen wollen, doch der ständige Gebrauch der Superlative verzerrt die Sprache, und so hatte Jos é Dias’ Vorliebe für diese Ausdrucksweise meine Traurigkeit noch verstärkt. Solltest du, lieber Leser, in diesem Buch einen ähnlichen Fall entdecken, gib mir Bescheid, damit ich ihn in der zweiten Auflage verbessere. Nichts ist hässlicher, als wenn Ideen, die eigentlich ganz klein sind, plötzlich ganz groß werden. Ich trocknete mir also, wie gesagt, die Tränen und lief weiter, um endlich nach Hause zu gelangen und meine Mutter wegen des bösen Gedankens, den ich gehabt hatte, um Verzeihung bitten zu können. Endlich kamen wir an und traten ein. Zitternd stieg ich die sechs Treppenstufen hoch, beugte mich über das Bett meiner Mutter und hörte ihre liebevollen Worte. Sie drückte meine Hände und nannte mich ihren geliebten Sohn. Ihr Körper war kochend heiß, und ihre auf mich gerichteten Augen glühten, als lodere darin ein Vulkan. Ich kniete neben ihrem Bett nieder, doch es war so hoch, dass sie mich dadurch nicht mehr liebkosen konnte: «Nein, mein Junge, steh auf, steh auf!»
Capitu, die sich ebenfalls im Schlafzimmer befand, gefielen meine Worte, meine Tränen und mein Auftreten, wie sie mir später sagte, aber natürlich erahnte sie nicht alle Gründe für meine Verzweiflung. Allein in meinem Zimmer überlegte ich, meiner Mutter alles zu gestehen, wenn sie wieder gesund wäre, doch dieser Gedanke war nicht von Dauer, sondern nur eine flüchtige Anwandlung, etwas, das ich nie in die Tat umsetzen würde, so sehr die Sünde mich auch plagte. Daher griff ich in meiner Reue ein weiteres Mal auf das alte Mittel der Versprechen im Geiste zurück und bat Gott, mir zu
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