Dom Casmurro
verzeihen und das Leben meiner Mutter zu retten. Ich würde dafür auch zweitausend Vaterunser beten. Sollte unter meinen Lesern ein Priester sein, so möge er mir vergeben. Es war das letzte Mal, dass ich auf dieses Mittel zurückgriff. Die Krise, in der ich mich befand, die alte Gewohnheit und mein Glaube erklären alles. Nun waren es also weitere zweitausend Gebete. Aber was war mit den alten? Ich hatte weder die einen noch die anderen abgegolten. Doch wenn solche Versprechen aus einem reinen, wahrhaftigen Herzen kommen, sind sie wie das Papiergeld – obschon der Schuldner seinen reellen Wert nicht bezahlt, ist es doch das wert, was darauf angegeben ist.
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Verschieben wir die Tugend auf später
Bestimmt hätten nur wenige den Mut gefunden, den Gedanken, der mich in der Rua de Matacavalos überkam, zu gestehen. Doch ich werde hier alles gestehen, was für meine Geschichte von Belang ist. Montaigne hat einmal über sich geschrieben: «Ce ne sont pas mes gestes que j’escris; c’est moi, c’est mon essence.» 43 Aber es gibt nur eine Möglichkeit, das eigene Wesen darzulegen, nämlich alles zu erzählen, das Gute wie das Schlechte. Das tue ich, indem ich mich erinnere und eine Rekonstruktion meiner selbst zulasse. Gerade zum Beispiel habe ich über eine Sünde berichtet und würde nun liebend gern auch eine gute Tat aus jener Zeit schildern, sollte mir denn eine einfallen. Doch mir fällt keine ein, und deshalb verschiebe ich es auf eine bessere Gelegenheit.
Du verpasst nichts, wenn du wartest, lieber Leser. Im Gegenteil, mir kommt gerade in den Sin n … Gute Taten sind nicht nur zu jeder Zeit gut, sondern auch möglich und wahrscheinlich, wie meine ebenso einfache wie klare Theorie über Laster und Tugenden besagt. Sie lässt sich darauf reduzieren, dass jeder Mensch mit einer bestimmten Anzahl von Lastern und Tugenden zur Welt kommt, die in einer Art ehelicher Gemeinschaft leben, damit sie sich im Leben ausgleichen. Ist einer der beiden Ehepartner stärker als der andere, leitet nur er den Menschen, ohne dass diesem, weil er jene gute Tat nicht verübt oder diese Sünde nicht begangen hat, deswegen der andere Teil fehlt. In der Regel handeln sie jedoch gemeinschaftlich und zum Vorteil des Menschen, der sie in sich trägt, und manchmal auch zum Ruhme des Himmels und der Erde. Leider kann ich diese Theorie nicht mit ein paar Fremdbeispielen belegen, da mir dazu die Zeit fehlt.
Was mich betrifft, so kam ich bestimmt mit mehreren dieser Pärchen zur Welt, die ich auch heute noch in mir trage. Zum Beispiel ist es mir hier in Engenho Novo schon passiert, dass ich nachts schlimme Kopfschmerzen hatte und mir daher wünschte, der Vorortzug der Central möge fern meiner Ohren zu Schaden kommen und die Bahnlinie für viele Stunden blockieren, selbst wenn dabei Menschen zu Tode kämen. Und am nächsten Tag verpasste ich genau auf dieser Strecke den Zug, weil ich meinen Krückstock einem Blinden schenkte, der keinen besaß. Voil à mes gestes, voil à mon essence. 44
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Der Gottesdienst
Am besten zeigt sich mein Wesen an der Inbrunst, mit der ich am darauffolgenden Sonntag am Gottesdienst in der Kirche Santo Antônio dos Pobres teilnahm. Unser Hausfreund wollte mich eigentlich begleiten und kleidete sich bereits dafür an, doch er brauchte so lange für seine Hosenträger und Hosenstege, dass ich nicht auf ihn warten konnte. Außerdem wollte ich allein sein und nicht durch eine Unterhaltung von dem Vorsatz abgelenkt werden, der mich dorthin führte, nämlich mich nach allem, was in Kapitel 67 passiert war, mit Gott auszusöhnen. Es ging nicht nur darum, ihn um Vergebung für meine Sünde zu bitten, sondern auch darum, ihm dafür zu danken, dass er meine Mutter wieder gesund gemacht hatte. Und, da ich ja alles sagen möchte: Ich wollte ihn auch bitten, mir meine Schulden zu erlassen. Jehova ist zwar heilig, aber vielleicht genau deswegen ein weit menschlicherer Rothschild 45 . Er gewährt nicht nur Zahlungsaufschub, sondern verzichtet sogar gänzlich auf die Schulden, sofern der Schuldner sein Leben ernsthaft ändert und seine Ausgaben kürzt. Nun, etwas anderes wollte ich gar nicht; fortan würde ich keine unhaltbaren Versprechungen mehr machen und auch meine Schulden sofort begleichen.
Ich hörte die Messe. Die Augen zu Gott erhoben, dankte ich ihm für das Leben und die Gesundheit meiner Mutter. Dann bat ich ihn um Vergebung für meine Sünde und nahm am Ende den Segen des Priesters wie einen feierlichen Akt
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