Dom Casmurro
der Versöhnung entgegen. Schließlich erinnerte ich mich, dass die Kirche ja ein verlässliches Notariat in Form des Beichtstuhls geschaffen hatte und in der Beichte das wahrhaftigste Instrument zur Abgeltung moralischer Schuld zwischen Gott und Mensch. Doch meine unverbesserliche Schüchternheit verschloss mir diese aussichtsreiche Tür. Ich fürchtete, keine Worte zu finden, um dem Beichtvater mein Geheimnis zu erklären. Wie der Mensch sich doch ändert! Heute tue ich es sogar öffentlich.
70
Nach der Messe
Ich betete noch immer, bekreuzigte mich schließlich, klappte das Gebetbuch zu und ging in Richtung Ausgang. Es waren nicht sehr viele Menschen anwesend, aber die Kirche war auch nicht groß, deshalb dauerte es etwas länger, bis ich draußen war. Um mich herum waren Männer und Frauen, alte und junge, in Seide oder Kattun gekleidet, mit hässlichen oder schönen Augen, doch ich sah weder die einen noch die anderen. Ich ließ mich mit der Strömung zum Portal treiben. Begrüßungen und Getuschel drangen an mein Ohr. Auf dem Kirchenvorplatz, wo es wieder hell wurde, blieb ich stehen und blickte mich um. Da sah ich ein Mädchen und einen Herrn, die gerade aus der Kirche kamen und stehenblieben. Das Mädchen blickte mich an, während es etwas zu dem Mann sagte, und der Mann blickte mich an, während er dem Mädchen zuhörte. Ich vernahm die folgenden Worte: «Aber was willst du?»
«Ich will wissen, wie es ihr geht. Frag ihn, Papa.»
Es war Fräulein Sancha, Capitus Schulfreundin, die sich nach meiner Mutter erkundigen wollte. Ihr Vater trat auf mich zu. Ich sagte ihm, dass es ihr wieder besser gehe. Dann brachen wir auf, und da wir denselben Weg hatten, gingen wir zusammen. Gurgel, der Vater, war ein Mann von vierzig Jahren, vielleicht auch etwas älter, mit einer Tendenz zum Bauchansatz. Er war sehr liebenswürdig. Als wir an seinem Haus angelangt waren, wollte er mich unbedingt zum Mittagessen einladen.
«Vielen Dank, aber Mama wartet auf mich.»
«Wir schicken einfach einen Sklaven, der ihr ausrichtet, dass Sie zum Mittagessen hierbleiben und später kommen.»
«Ich komme ein andermal.»
Ihrem Vater zugewandt, hörte Fräulein Sancha zu und wartete. Sie war nicht hässlich, aber man sah, dass ihre Nase der seinen ähnelte, die etwas zu dick geraten war. Bestimmte Züge sind indes bei den einen reizvoll und bei den anderen nicht. Sie war schlicht gekleidet. Gurgel war Witwer und liebte seine Tochter über alles. Da ich die Einladung zum Mittagessen abgelehnt hatte, wollte er, dass ich mich ein paar Minuten bei ihnen ausruhte. Ich konnte es ihm schlecht abschlagen und stieg die Stufen hoch. Er erkundigte sich, wie alt ich sei, was ich studierte, wie es um meinen Glauben stehe, und gab mir gute Ratschläge für den Fall, dass ich Priester würde. Er nannte mir auch die Hausnummer seines Geschäfts in der Rua da Quitanda. Schließlich verabschiedete ich mich, und er begleitete mich zur Treppe. Die Tochter trug mir Grüße für Capitu und meine Mutter auf. Von der Straße aus sah ich noch einmal hoch. Der Vater stand am Fenster und winkte mir zum Abschied lange zu.
71
Besuch von Escobar
Zu Hause hatten sie meine Mutter angeschwindelt und gesagt, ich sei bereits zurück, müsse mich aber noch umziehen.
«Die Acht-Uhr-Messe ist längst vorbe i … Bentinho müsste schon hier sein. Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein, Bruder Cosme ? … Lasst nach ihm suche n …» Diese Worte wiederholte sie alle paar Minuten, bis ich schließlich kam und mit mir die Ruhe wieder einkehrte.
Es war ein Tag der Freude. Escobar besuchte mich, um sich zu erkundigen, wie es meiner Mutter gehe. Er war noch nie bei mir zu Hause gewesen, und unsere Freundschaft war damals noch nicht so eng. Doch als er drei Tage zuvor den Grund für mein plötzliches Verschwinden erfahren hatte, nutzte er den Sonntag, um zu mir zu kommen und zu fragen, ob immer noch Gefahr bestehe. Als ich dies verneinte, atmete er auf.
«Ich hatte schon richtig Angst», sagte er.
«Wissen es die anderen auch?»
«Es scheint so: einige zumindest.»
Onkel Cosme und José Dias waren von dem Jungen angetan. Der Hausfreund erzählte ihm, er habe einmal seinen Vater in Rio de Janeiro gesehen. Escobar war sehr höflich. Obwohl er damals noch mehr redete als später, sprach er immer noch weniger als andere Jungen in unserem Alter. An diesem Tag hatte ich jedoch das Gefühl, dass er etwas mehr aus sich herausging. Onkel Cosme wollte, dass er mit uns zu Abend
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