Domfeuer
den sie in der Kammer nebenan zurückgelassen hatte, noch aufwachen, ganz gleich, mit welchen Kräutern und Mengen sie ihn ins Reich der Träume geschickt hatte. Sie musste zusehen, dass sie mit ihrer Beute verschwand. Sonst war ihr schöner Traum vom freien Leben schon vorbei, bevor er begonnen hatte.
Sie schloss die Truhe, schlüpfte in ihr Obergewand und schnürte es eilig über der Hüfte zusammen. Dann nahm sie den Gürtel mit den Geldkatzen und hielt inne. Ihre Finger fuhren über die kleinen Beutel. Jeder war aus feinstem Leder gearbeitet und sorgsam verschnürt. Jenne strahlte. Ihr war das Glück in den Schoß gefallen. Erst dann hastete sie aus der Kammer.
Paulus stand wie angewurzelt am Ende des Ganges und lugte über den Treppenabsatz hinab. Er wollte einfach nicht glauben, was er gerade aus dem Mund des Mannes mit dem Rauschebart gehört hatte.
Die Hunde!
Sie hatten seine Fährte aufgenommen. Sie würden ihn hetzen, bis ans Ende der Welt.
Als der größte Hund die steile Stiege erklomm, gelang es Paulus endlich, sich von dem Anblick loszureißen. Er lief in die entgegengesetzte Richtung, den Gang entlang. Aber er wusste nicht, wohin er flüchten konnte.
»Paulus? Was geht da vor?«
Seine Mutter stand in der Tür zu ihrer Kammer und starrte ihn verwundert an. Paulus rannte wortlos an ihr vorüber. Doch nach wenigen Schritten nur, kurz bevor der Gang nach rechts abknickte, lief er in einen Körper hinein, der unvermittelt aus einer der Kammern getreten war, und ging gemeinsam mit ihm zu Boden. Paulus stürzte gegen die Lehmwand. Benommen fuhr er sich über den Kopf und schüttelte Stücke von bröckelndem Putz aus dem Haar.
Es war das Mädchen von eben. Die Kleine mit der Augenbinde kroch auf allen vieren davon und schien durch den Zusammenprall die Orientierung verloren zu haben. Nein, sie suchte etwas. Ihre Hände tappten ungeschickt über den Boden.
»Wo ist er? Wo zum Teufel ist er?«, flüsterte sie.
Der erste Hund erreichte den Treppenabsatz. Mit fliegenden Pfoten raste er auf Paulus zu, Geifer troff von seinen Lefzen. Hinter ihm erschien schon der Kopf eines Mannes, der ihm die Treppe hoch folgte. Paulus hob abwehrend die Hände. Jeden Augenblick würde der Hund zum Sprung ansetzen.
Doch dann bog der Hund ab. Er stürzte durch eine offene Tür, und im gleichen Augenblick drang ein spitzer Schrei von Paulus’ Mutter aus der Kammer. Paulus begriff sofort. Der Hund war dem Geruch des blutdurchtränkten Hemdes gefolgt.
»Du bewegst dich keinen Schritt vom Fleck!« Der Mann, der einen weiteren Hund an der Leine führte, baute sich am Treppenabsatz auf.
Hinter ihm kam der nächste Verfolger die Stiege hochgeeilt. Noch während Paulus überlegte, ob er sich einfach umdrehen und den Gang weiterlaufen sollte, spürte er, wie das Mädchen an seinem Bein zerrte.
»Jetzt geh endlich zur Seite, ein kleines Stückchen nur!«, zischte sie.
In was für eine aberwitzige Lage war er da nur hineingeraten? Vor ihm ein Mann und ein Hund, die beide die Zähne fletschten, in der Kammer seine kreischende Mutter und zu seinen Füßen eine blutjunge Hure, die sich an seinem Bein rieb. Was suchte sie da nur? Paulus blickte an sich hinab. Dann entdeckte er den Gürtel mit den Geldkatzen unter seinem Fuß. Und nur einen Wimpernschlag später griff das Mädchen nach dem Gürtel. Das war es also, was die Hure haben wollte. Ihr Geld. Paulus bückte sich nach dem Gürtel, riss ihn dem Mädchen aus der Hand und öffnete einen der Beutel.
Er war voller Münzen.
Paulus griff hinein und warf eine Handvoll Geldstücke mit Schwung in den Gang. Die beiden Männer, die ihn eben noch grimmig angestarrt hatten, verfolgten die Münzen mit großen Augen.
»Was geht da oben vor sich?«, brüllte jemand unten im Schankraum.
Paulus erkannte die Stimme des Mannes mit dem Rauschebart. Er hatte sich eben das Wortgefecht mit Henner geliefert. Paulus’ Verfolger antworteten nicht, sondern stürzten sich zu Boden und sammelten hastig die Münzen ein, die über die Bohlen kullerten. Der zweite Hund fand sich plötzlich ohne Leine wieder und nutzte die Gelegenheit, ebenfalls in die Kammer zu laufen, in der sein Leithund das blutige Hemd aufgestöbert hatte. Paulus’ Mutter brüllte noch lauter.
Er versuchte, ihre Angstschreie zu überhören. Die Hunde würden ihr schon nichts antun. Sie hatten es auf das Hemd abgesehen, sonst nichts. Er dagegen musste seine nackte Haut retten. Doch als er loslaufen wollte, kam er nicht vom Fleck.
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