Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
du erkennen, daß dein Gefühl, Zeit zu haben, töricht ist. Auf dieser Erde gibt es keine Überlebenden!«
Die Flügel der Wahrnehmung
Don Juan und ich verbrachten den ganzen Tag in den Bergen. Wir waren in der Dämmerung aufgebrochen. Er führte mich zu vier Orten der Kraft, und an jedem einzelnen gab er mir spezifische Instruktionen, wie ich der Erfüllung einer besonderen Aufgabe näherkommen könne, die er mir vor Jahren als eine das ganze Leben währende Situation dargestellt hatte. Am Spätnachmittag kehrten wir zurück. Nach dem Essen verließ Don Juan Don Genaros Haus. Er meinte, ich solle auf Pablito warten, der Petroleum für die Lampe bringen wollte, und mich mit ihm unterhalten.
Ich war ganz vertieft in die Ausarbeitung meiner Notizen und hörte Pablito erst, als er neben mir stand. Pablito erklärte, er habe den »Gang der Kraft« angewandt, und deshalb hätte ich ihn unmöglich hören können, solange ich nicht »sehen« könne. Ich hatte Pablito immer sehr gern gehabt. Bisher hatte ich aber wenig Gelegenheit gehabt, mit ihm allein zu sein, wenngleich wir gute Freunde waren. Pablito hatte mich immer als ein liebenswürdiger Mensch für sich eingenommen. Er hieß natürlich Pablo, aber die Koseform Pablito paßte besser zu ihm. Er war zartgliedrig, aber drahtig. Wie Don Genaro war er schlank, aber überraschend muskulös und stark. Er war vielleicht Ende Zwanzig, aber er wirkte wie achtzehn. Er war von dunkler Hautfarbe und mittlerer Statur. Seine Augen blickten klar und strahlend, und wie Don Genaro hatte er stets ein gewinnendes Lächeln, mit einem Anflug von boshaftem Witz.
Ich fragte ihn nach seinem Freund Nestor, Don Genaros anderem Lehrling. In der letzten Zeit hatte ich sie immer beisammen gesehen, und sie hatten auf mich stets den Eindruck gemacht, als hätten sie ein ausgezeichnetes Verhältnis zueinander; doch in ihrem Äußeren wie in ihrem Charakter waren sie Gegensätze. Während Pablito leutselig und offen war, war Nestor verschlossen und in sich gekehrt. Auch war er größer, schwerfälliger, dunkler und wesentlich älter.
Pablito erzählte, daß Nestor endlich ganz in seiner Arbeit mit Don Genaro aufgehe und daß er, seit der Zeit, als ich ihn zum letztenmal gesehen hatte, überhaupt ein völlig anderer Mensch geworden sei. Er wollte aber nicht weiter auf Nestors Arbeit oder seinen Persönlichkeitswandel eingehen und wechselte unvermittelt das Thema.
»Ich höre, das Nagual hat dich am Kragen«, sagte er. Ich war überrascht, daß er dies wußte, und fragte ihn, wie er es herausgefunden habe. »Genaro erzählt mir alles«, sagte er. Mir fiel auf, daß er von Don Genaro nicht mit der gleichen Förmlichkeit sprach wie ich. Er nannte ihn einfach vertraulich Genaro. Er sagte, Don Genaro sei ihm wie ein Bruder, und sie verkehrten unbefangen miteinander, ganz wie in einer Familie. Er bekannte offen, daß er Don Genaro herzlich liebhatte. Ich war tief gerührt von seiner einfachen und offenen Art. Während ich mit ihm sprach, erkannte ich, wie sehr Don Juan und ich uns im Temperament glichen; unsere Beziehung war förmlich und korrekt im Vergleich zu Don Genaros und Pablitos Verhalten zueinander.
Ich fragte Pablito, warum er sich vor Don Juan fürchte. Seine Augen flackerten. Es war, als ob der bloße Gedanke an Don Juan ihn zusammenschrecken ließe. Er antwortete nicht. Er musterte mich auf eine irgendwie seltsame Art. »Hast du denn keine Angst vor ihm?« fragte er. Ich erzählte ihm, daß ich vor Don Genaro Angst hätte, und er lachte, als habe er dies nun am allerwenigsten erwartet. Don Juan und Don Genaro, sagte er, das sei wie der Unterschied zwischen Tag und Nacht. Don Genaro sei der Tag. Don Juan sei die Nacht, und insofern sei er der furchterregendste Mensch auf Erden. Von der Schilderung seiner Furcht vor Don Juan kam Pablito dann auf seine eigene Situation als Lehrling zu sprechen.
»Ich bin in einem ganz elenden Zustand«, sagte er. »Könntest du sehen, wie es in mir aussieht, dann wäre dir klar, daß ich für einen normalen Menschen zuviel weiß, und doch, wenn du mich mit dem Nagual sähest, dann wäre dir klar, daß ich nicht genug weiß.« Er wechselte rasch das Thema und fing an, sich über mein Mitschreiben lustig zu machen. Don Genaro, sagte er, habe stundenlang Heiterkeitsstürme hervorgerufen, indem er mich imitierte. Auch meinte er, daß Don Genaro mich - trotz meiner Ticks und Schrullen - sehr gern habe und daß er sich freue, mich als »protegido« zu
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