Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
zurücknehmen, und nichts ist verloren.«
Ich sagte ihr, daß ihre Erklärung mir ganz unglaublich erschien.
Sie zuckte die Schultern, als wollte sie sagen, daß dies nicht ihre Sache sei. Dann fragte ich sie, in welchem Sinn sie eigentlich das Wort >Nagual< verwendete. Don Juan, so sagte ich, habe mir das Nagual immer als unbeschreibliches Prinzip, als die Ursache von allem erklärt.
»Sicher«, sagte sie lächelnd, »ich weiß, was er meinte. Das Nagual ist alles.«
Höhnisch hielt ich ihr vor, daß man ebenso gut das Gegenteil behaupten könne: das Tonal ist alles. Sie erklärte mir ausführlich, daß dies kein Widerspruch sei, daß meine Feststellung richtig sei, denn das Tonal sei ebenfalls alles. Das Tonal, das in allem enthalten ist, so sagte sie, könnten wir leicht mit unseren Sinnen wahrnehmen, während das Nagual, das in allem enthalten ist, sich nur dem Auge des Zauberers offenbare. Sie fügte hinzu, wir könnten auf die fremdartigsten Bilder des Tonal stoßen und darüber erschrecken, vor Ehrfurcht ergriffen oder gleichgültig sein, denn jeder von uns könne solche Bilder sehen. Das Bild des Nagual hingegen bedürfe der spezialisierten Sinne eines Zauberers, um überhaupt sichtbar zu werden. Und doch seien das Tonal wie das Nagual allezeit in allem gegenwärtig. Es sei daher richtig, wenn ein Zauberer den Anblick des Tonais, das in allem enthalten ist, als >Schauen< bezeichnet, während er den Anblick des Nagual, das ebenfalls in allem enthalten ist, als >Sehen< bezeichnet. Wenn also ein Krieger als gewöhnlicher Mensch die Welt betrachtet, dann schaut er; wenn er sie aber als Zauberer betrachtet, dann >sieht< er. Und was er >sieht<, so sagte sie, müsse korrekterweise als das Nagual bezeichnet werden. Dann wiederholte sie mir die Begründung - die ich schon von Nestor erfahren hatte -, warum sie Don Juan den Nagual nannten, und bestätigte mir, daß ich wegen der Gestalt, die aus meinem Kopf gekommen war, ebenfalls der Nagual sei.
Ich wollte wissen, warum sie die aus meinem Kopf gekommene Gestalt den Doppelgänger nannten. Sie sagte, sie hätten geglaubt, ich verstünde diese scherzhafte Anspielung: sie nannten diese Gestalt nämlich Doppelgänger, weil er doppelt so groß sei wie der Mensch, zu dem er gehörte.
»Nestor hat mir gesagt, es sei keineswegs gut, diese Gestalt zu haben.«
»Es ist weder gut noch schlecht«, sagte sie. »Du hast sie eben, und das macht dich zum Nagual. Das ist alles. Einer von uns acht mußte der Nagual sein, und jetzt bist du es. Ebenso gut hätte es Pablito oder ich oder sonst einer sein können.«
»Und jetzt sag mir doch, was ist die Kunst des Pirschens?« fragte ich.
»Der Nagual war ein Pirscher«, sagte sie und schaute mich aufmerksam an.
»Das mußt du wissen. Er hat dich von Anfang an nichts andres gelehrt als das Pirschen.«
Mir kam der Gedanke, daß sie vielleicht das meinte, was Don Juan den >Jäger< nannte. Gewiß, er hatte mich gelehrt, ein Jäger zu sein. Nun erzählte ich ihr, wie Don Juan mich gelehrt hatte, zu jagen und Fallen zu stellen. Wenn sie dies >Pirschen< nannte, so schien mir dies den Sachverhalt korrekter zu treffen.
»Ein Jäger jagt nur«, sagte sie. »Ein Pirscher pirscht alles an, auch sich selbst.«
»Ein makelloser Pirscher kann alles zu seiner Beute machen. Der Nagual sagte mir, wir können sogar unsere eignen Schwächen anpirschen.«
Ich unterbrach mein Schreiben und versuchte mich zu besinnen, ob Don Juan mich jemals auf diese neue Möglichkeit aufmerksam gemacht hatte: meine Schwächen anzupirschen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, daß er es je mit diesen Worten ausgedrückt hatte.
»Wie kann man seine Schwächen anpirschen, Gorda?«
»Genau wie man Beute anpirscht. Du beobachtest deine Routinegewohnheiten, bis du alles Tun deiner Schwächen kennst, und dann stürzt du dich auf sie und steckst sie wie Kaninchen in einen Käfig.«
Dasselbe hatte Don Juan mir über die Routinegewohnheiten gesagt, allerdings im Zusammenhang eines allgemeinen Prinzips, das der Jäger beachten müsse. La Gorda begriff und verwendete dieses Prinzip allerdings in praktischerem Sinn als ich. Jede Gewohnheit sei, so hatte Don Juan gesagt, im wesentlichen ein >Tun<, und ein Tun bedürfe, um zu funktionieren, all seiner Bestandteile. Wenn Teile fehlten, dann löste das Tun sich auf. Unter Tun verstand er jede zusammenhängende und sinnvolle Folge von Handlungen. Mit anderen Worten, eine Gewohnheit bedurfte, um lebendige Aktivität zu sein,
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