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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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sagte ihnen nicht alles«, antwortete sie. »Ich nahm sie einfach mit. Wir liefen den ganzen Vormittag durch die Straßen.« Ihr Bericht versetze mich in eine merkwürdige Gemütslage. Mein ganzer Körper wurde von nervösen Krämpfen geschüttelt. Ich mußte aufstehen und eine Weile rumlaufen. Dann setzte ich mich wieder und erzählte ihr, daß ich tatsächlich am gleichen Tag in der Stadt gewesen war und daß ich den ganzen Nachmittag auf dem Markt herumgeschlendert war und nach Don Juan Ausschau gehalten hatte. Sie starrte mich offenen Mundes an.
    »Anscheinend haben wir einander verfehlt«, seufzte sie. »Wir waren auf dem Markt und im Park. Wir saßen fast den ganzen Nachmittag auf der Treppe vor der Kirche, um die Aufmerksamkeit der Leute nicht auf uns zu ziehen.«
    Das Hotel, in dem ich abgestiegen war, lag unmittelbar neben der Kirche. Ich erinnerte mich, daß ich lange am Fenster gestanden und die Leute vor der Kirche beobachtet hatte. Irgend etwas zwang mich einfach hinzusehen. Ich hatte die absurde Vorstellung, Don Juan und Don Genaro könnten unter diesen Leuten sein, einfach wie Bettler herumsitzen, um mich zu überraschen. »Wann seid ihr aus der Stadt fortgegangen?«
    »Wir gingen gegen fünf Uhr und machten uns zum Platz des Nagual in den Bergen auf«, antwortete sie. Und auch ich hatte die Gewißheit gehabt, daß Don Juan gegen Abend die Stadt verlassen hatte. Ganz klar erinnerte ich mich jetzt an alle Gefühle, die ich während der Zeit gehabt hatte, als ich nach Don Juan Ausschau hielt. Im Lichte dessen, was sie mir eben gesagt hatte, mußte ich meine Auffassung revidieren. Meine Gewißheit, Don Juan in den Straßen zu treffen, hatte ich mir nämlich einfacherweise als irrationale Erwartung erklärt - als Folge der Tatsache, daß ich ihn in der Vergangenheit immer dort angetroffen hatte. Nun aber war la Gorda tatsächlich in der Stadt gewesen und hatte nach mir gesucht, und sie war diejenige, die Don Juan im Temperament am nächsten stand. Die ganze Zeit hatte ich seine Anwesenheit gespürt. Nun hatte la Gordas Erzählung mir etwas bestätigt, was mein Körper ohne jeden Zweifel gewuß hatte.
    Als ich ihr ausführlich meine Stimmung an jenem Tag schilderte, bemerkte ich an ihr ein nervöses Flattern. »Was wäre geschehen, wenn ihr mich gefunden hättet?« fragte ich.
    »Das hätte alles verändert«, antwortete sie. »Dich zu finden, hätte für mich bedeutet, daß ich genügend Kraft habe, um aufzubrechen. Deshalb nahm ich auch die Schwesterchen mit. Wir alle - du, ich, die Schwesterchen - wären an diesem Tag zusammen fortgegangen.«
    »Wohin, Gorda?«
    »Wer weiß? Hätte ich die Kraft gehabt, dich zu finden, dann hätte ich auch die Kraft gehabt, dies zu wissen. Jetzt bist du an der Reihe. Vielleicht hast du genug Kraft um zu wissen, wohin wir gehen sollen. Siehst du, was ich meine?« Jetzt überfiel mich tiefste Traurigkeit. Schärfer denn je empfand ich die Hoffnungslosigkeit meiner menschlichen Vergänglichkeit und Zeitlichkeit. Don Juan hatte stets behauptet, die einzige Abwehr gegen unsre Verzweiflung sei das Wissen um unseren Tod - der Schlüssel zum Weltverständnis des Zauberers. Seine Vorstellung war, daß das Wissen um unseren Tod das einzige ist, das uns die Kraft gibt, Härte und Schmerz unseres Lebens und unsere Angst vor dem Unbekannten zu ertragen. Was es mir aber nie hatte sagen können, war, wie ich dieses Wissen in den Vordergrund meines Bewußtseins heben könnte. Immer wenn ich ihn fragte, hatte er wiederholt, der einzig entscheidende Faktor sei mein Wille; mit anderen Worten, ich mußte mich aus eigenem entschließen, meine Handlungen durch dieses Wissen begleiten zu lassen. Und das hatte ich, wie ich meinte, getan. Aber angesichts von la Gordas Entschlossenheit, mich zu finden und mit mir fortzugehen, erkannte ich, daß ich, falls sie mich an jenem Tag in der Stadt getroffen hätte, nie mehr nach Hause zurückgekehrt wäre, nie mehr die Menschen gesehen hätte, die mir lieb waren. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich hatte mich zum Sterben gerüstet, nicht aber darauf, bei vollem Bewußtsein und ohne Bedauern oder Enttäuschung für den Rest meines Lebens zu verschwinden. Und alles, was mir teuer war, zurückzulassen. Fast schämte ich mich, la Gorda zu sagen, daß ich nicht jener Krieger war - würdig über die Kraft zu gebieten, die man braucht, um einen solchen Schritt zu tun: für immer zu gehen, ohne zu wissen, wohin und was tun.
    »Wir sind nur Menschen«, sagte

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