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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Freundschaft. Dann ging ich fort. Ich wollte mir noch die Stadt ansehen, bevor die Kraft mich hinwegführen würde. Die ganze Nacht wanderte ich umher. Ich ging zu den Bergen hinauf, die die Stadt überragten, und in dem Augenblick, als die Sonne aufging, traf mich wie Blitz und Donner eine Erkenntnis: ich war wieder in der Welt, und die Kraft, die mich auflösen wird, wollte mich verschonen und noch eine Weile bleiben lassen. Ich sollte noch einige Zeit meine Heimat und diese wundervolle Erde sehen. Welch eine Freude, Maestro! Aber ich könnte nicht behaupten, daß ich nicht auch die Freundschaft Porfirios genossen hätte. Beide Visionen sind gleich, aber ich bevorzuge die Vision meiner Form und meiner Erde. Vielleicht ist das meine Art, mich gehenzulassen.«
    Nestor schwieg, und alle drei sahen mich an. Ich fühlte mich bedroht wie noch nie zuvor. Ein Teil von mir war erschüttert über das, was er gesagt hatte, ein anderer wollte ihm widersprechen. Ich fing eine sinnlose Diskussion mit ihm an. Meine innere Leere dauerte eine Weile, dann wurde mir bewußt, daß Benigno mich mit bösem Gesichtsausdruck anstarrte. Sein Blick war auf meinen Brustkorb fixiert. Ich spürte, wie plötzlich etwas Unheimliches gegen mein Herz drückte. Ich fing an zu schwitzen, als ob sich direkt vor meinem Gesicht ein Heizstrahler befände. Meine Ohren summten.
    Genau in diesem Moment kam la Gorda zu mir. Sie bot einen höchst ungewöhnlichen Anblick. Ich war sicher, daß die Genaros es ebenso empfanden. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung und schauten sie an. Pablito erholte sich als erster von seiner Überraschung.
    »Warum mußt du so hereinkommen?« fragte er in anklagendem Ton. »Du hast im anderen Zimmer gelauscht, nicht wahr?« Sie sagte, sie sei erst ein paar Minuten im Haus und gleich in die Küche gekommen. Und sie habe sich nicht deshalb leise verhalten, weil sie lauschen wollte, sondern um sich in der Kunst, unauffällig zu bleiben, zu üben. Ihre Anwesenheit hatte einen seltsamen Stillstand erzeugt. Ich wollte den Faden von Nestors Erzählung wieder aufnehmen, aber bevor ich etwas sagen konnte, meinte la Gorda, die Schwesterchen seien hierher unterwegs und würden bald eintreffen.
    Wie vom gleichen Draht gezogen, standen die Genaros gleichzeitig auf. Pablito schulterte seinen Stuhl.
    »Komm, wir gehn auf eine Wanderung im Dunkeln, Maestro«, sagte Pablito zu mir.
    La Gorda sagte in gebieterischem Ton, ich dürfe noch nicht mit ihnen gehen, weil sie mir noch nicht alles erzählt habe, das der Nagual ihr aufgetragen hatte, mir zu sagen. Pablito wandte sich um und blinzelte mir zu. »Ich hab's dir ja gesagt«, sagte er, »sie sind herrschsüchtige böse Hexen. Ich hoffe wirklich, daß du nicht ebenso bist, Maestro.« Nestor und Benigno sagten mir gute Nacht und umarmten mich. Pablito, der seinen Stuhl wie einen Rucksack trug, wandte sich einfach ab. Sie gingen durch die Hintertür hinaus. Ein paar Sekunden später ließ ein furchtbarer Schlag gegen die Vordertür la Gorda und mich aufspringen. Herein kam Pablito, seinen Stuhl auf dem Rücken.
    »Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich würde gehen, ohne dir gute Nacht zu sagen?« fragte er und ging lachend davon.

5 Die Kunst des Träumens
    Anderntags verbrachte ich den ganzen Vormittag allein. Ich arbeitete an meinen Notizen. Am Nachmittag nahm ich das Auto und half la Gorda und den Schwesterchen, ihre Möbel aus Dona Soledads Haus in ihr neues Haus zu holen. Am frühen Abend saßen la Gorda und ich allein in der Eßecke. Lange schwiegen wir. Ich war sehr müde. Dann brach la Gorda das Schweigen und meinte, sie alle seien zu selbstgefällig gewesen, seit der Nagual und Genaro fort waren. Jeder von ihnen sei völlig von seinen eignen Aufgaben in Anspruch genommen gewesen. Sie sagte, der Nagual habe ihr befohlen, eine zu allem entschlossene Kriegerin zu sein und jedem Weg zu folgen, den das Schicksal ihr bestimmen würde. Falls Soledad meine Kraft gestohlen hätte, dann hätte la Gorda fliehen und versuchen müssen, die Schwesterchen zu retten und sich Benigno und Nestor anzuschließen, den beiden Genaros, die als einzige überlebt hätten. Falls die Schwesterchen mich getötet hätten, sollte sie allein sich den Genaros anschließen, weil die Schwesterchen sie dann nicht mehr gebraucht hätten. Falls ich den Angriff der Verbündeten nicht überlebt hätte, sie aber wohl, dann hätte sie diese Gegend verlassen und allein leben müssen. Mit einem Glitzern in den Augen sagte sie mir,

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