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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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aller ihrer Handlungselemente.
    Dann schilderte la Gorda, wie sie selbst ihre Schwäche des übermäßigen Essens angepirscht hatte. Der Nagual hatte ihr vorgeschlagen, zuerst den größten Teil ihrer Gewohnheit anzugreifen, der mit ihrer Arbeit als Wäscherin zusammenhing; wenn sie von Haus zu Haus ging und die Wäsche ablieferte, aß sie überall, wo man ihr etwas anbot. Sie hatte erwartet, daß der Nagual ihr einen Rat gäbe, was sie tun sollte, doch er lachte sie nur aus; denn er meinte, falls er ihr sagte, was sie tun sollte, würde sie sich auflehnen, nur um es nicht zu tun. So seien die Menschen eben, sagte er; sie lieben es, sich sagen zu lassen, was sie tun sollen - aber noch mehr lieben sie es, sich zu widersetzen und nicht zu tun, was man ihnen sagt, und so verstricken sie sich und hassen schließlich denjenigen, der ihnen überhaupt etwas rät.
    Viele Jahre, so erzählte sie, fiel ihr nichts ein, was sie tun konnte, um ihre Schwäche anzupirschen. Eines Tages aber war sie es dermaßen leid, so fett zu sein, daß sie dreiundzwanzig Tage lang keine Nahrung zu sich nahm. Dies war der Anfang, und damit war ihre Fixierung gebrochen. Dann kam ihr die Idee, sich einen Schwamm in die Backe zu stecken, damit ihre Kunden glaubten, sie habe Zahnweh und könne nichts essen. Diese List klappte nicht nur bei ihren Kunden, die ihr nicht mehr zu essen gaben, sondern auch bei ihr selbst, denn wenn sie auf dem Schwamm herumkaute, hatte sie das Gefühl, als äße sie etwas. La Gorda mußte lachen, als sie mir erzählte, wie sie jahrelang mit einem Schwamm im Mund herumgelaufen war, bis sie ihre Gewohnheit, übermäßig zu essen, gebrochen hatte. »Und das war alles, was du tun mußtest, um deine Gewohnheit abzustellen?« fragte ich.
    »Nein, ich mußte auch noch lernen, wie ein Krieger zu essen.«
    »Und wie ißt ein Krieger?«
    »Ein Krieger ißt schweigend und langsam und sehr wenig auf einmal. Ich pflegte beim Essen immer zu reden, und ich aß sehr schnell, und ich aß zu jeder Mahlzeit ungeheure Mengen. Der Nagual sagte mir, ein Krieger ißt jedesmal nur vier Bissen. Etwas später ißt er nochmal vier Bissen, und so weiter. Ein Krieger wandert auch jeden Tag viele Meilen. Meine Schwäche fürs Essen hinderte mich immer daran zu wandern. Ich überwand sie, indem ich jede Stunde vier Bissen aß und indem ich wanderte. Manchmal wanderte ich Tag und Nacht. Auf diese Weise verlor ich das Fett auf meinem Arsch.«
    Lachend erinnerte sie sich an den Spitznamen, den Don Juan ihr gegeben hatte.
    »Aber um unsere Schwächen loszuwerden, genügt es nicht, sie anzupirschen«, sagte sie. »Du kannst sie meinetwegen bis zum Jüngsten Tag anpirschen, und es macht nicht den geringsten Unterschied. Deshalb sagte der Nagual mir nicht, was ich tun sollte. Was ein Krieger wirklich braucht, um ein makelloser Pirscher zu sein, ist eine eigene Absicht.« Dann berichtete la Gorda, wie sie, bevor sie dem Nagual begegnete, in den Tag hineingelebt hatte, ohne ein Ziel vor Augen. Sie hatte keine Hoffnung, keine Träume, kein Verlangen nach irgend etwas. Aber die Gelegenheit, etwas zu essen, war immer da; aus einem ihr unerfindlichen Grund hatte sie jeden Tag ihres Lebens reichlich zu essen gehabt. Sogar so viel, daß sie schließlich 236 Pfund wog.
    »Essen war das einzige, was mich im Leben freute«, sagte la Gorda.
    »Außerdem war ich in meinen Augen nicht fett. Ich glaubte sogar, daß ich recht hübsch sei und daß die Leute mich mochten, so wie ich war. Alle sagten, ich sähe gesund aus. Da sagte der Nagual mir etwas Seltsames. Er sagte, ich hätte eine ungeheure Menge persönlicher Kraft, und deshalb sei es mir immer gelungen, von Freunden und Bekannten Nahrung zu bekommen, während meine Verwandten zu Hause hungerten. Jeder hat genug persönliche Kraft für irgend etwas. Bei mir ging es um den Trick, meine persönliche Kraft vom Essen abzulenken und auf meine Absicht als Kriegerin zu richten.«
    »Und was ist diese Absicht, la Gorda« fragte ich, halb im Scherz. »In die andere Welt einzugehen«, erwiderte sie grinsend und tat so, als wolle sie mich mit den Fingerknöcheln auf den Kopf schlagen, wie Don Juan es immer getan hatte, wenn er meinte, daß ich mich gehenließ.
    Es war nicht mehr hell genug um zu schreiben. Ich bat sie, eine Laterne zu holen, aber sie klagte, sie sei müde und müsse ein wenig schlafen, bevor die Schwesterchen einträfen. Wir gingen ins vordere Zimmer. Sie gab mir eine Decke, hüllte sich selbst in eine und schlief

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