Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
sie. »Wer weiß, was uns erwartet oder welche Kraft wir womöglich haben.« Ich sagte ihr, daß meine Trauer, wenn ich auf diese Weise gehen mußte, zu groß wäre. Die Veränderungen, denen die Zauberer sich unterziehen, waren für mich zu dramatisch und zu endgültig. Ich erzählte ihr, was Pablito mir von seiner unerträglichen Trauer um den Verlust seiner Mutter gesagt hatte. »Die menschliche Form lebt von solchen Gefühlen«, sagte sie trocken. »Ich selbst hatte jahrelang Mitleid mit mir und meinen kleinen Kindern. Ich verstand nicht, wie der Nagual so grausam sein konnte, von mir zu fordern, was ich dann doch tat: meine Kinder zu verlassen, sie zu vernichten und zu vergessen.« Sie sagte, sie habe Jahre gebraucht um zu verstehen, daß der Nagual ebenfalls hatte bereit sein müssen, die menschliche Form zu verlassen. Er war nicht grausam; er hatte einfach keine menschlichen Gefühle mehr. Für ihn war alles gleich. Er hatte sein Schicksal akzeptiert. Pablitos Problem, und übrigens auch meins, war, daß wir unser Schicksal nicht akzeptierten. Ein wenig spöttisch meinte la Gorda, Pablito flenne zwar beim Andenken an seine Mutter, seine gute Manuelita - besonders aber wenn er sich allein sein Essen kochen müsse. Sie forderte mich auf, mich an Pablitos Mutter zu erinnern, wie sie wirklich war: eine dumme alte Frau, die nichts verstand, außer Pablito zu bedienen. Sie sagte, sie alle glaubten, er sei wohl deshalb ein Feigling geworden, weil er nicht fröhlich akzeptieren konnte, daß seine Magd Manuelita sich in die Hexe Soledad verwandelt hatte, die ihn einfach wie eine Laus zertreten konnte.
Mit einer dramatischen Gebärde stand la Gorda auf und beugte sich über den Tisch, bis ihre Stirn fast meine berührte. »Der Nagual sagte, daß Pablito außerordentliches Glück gehabt hat«, sagte sie. »Mutter und Sohn kämpfen um das gleiche. Wäre er nicht der Feigling, der er ist, dann würde er sein Schicksal akzeptieren und Soledad als Krieger entgegentreten, ohne Furcht oder Haß. Am Ende würde der Bessere von beiden siegen und alles nehmen. Falls Soledad Siegerin bleibt, sollte Pablito glücklich sein Schicksal annehmen und ihr Gutes wünschen. Aber nur ein wirklicher Krieger kann diese Art Glück empfinden.«
»Was hält Dona Soledad von alledem?«
»Sie läßt sich nicht gehen und schwelgt nicht in ihren Gefühlen«, antwortete la Gorda und setzte sich wieder. »Sie akzeptiert ihr Schicksal bereitwilliger als wir alle. Bevor der Nagual ihr half, ging es ihr noch schlechter als mir. Ich war wenigstens jung. Sie war eine alte Kuh, fett und schlaff, und betete um ihren Tod. Jetzt aber wird der Tod um sie kämpfen müssen, wenn er sie holen will.«
Was mich bei Dona Soledads Verwandlung am meisten verblüffte, war der Zeitfaktor. Ich erzählte la Gorda, ich hätte Dona Soledad, soweit mir erinnerlich, erst vor zwei Jahren gesehen, und damals war sie die gleiche alte Frau, die ich immer gekannt hatte. Doch la Gorda sagte, der Nagual habe, als ich zum letztenmal in Dona Soledads Haus - und zwar in der Meinung, es sei noch immer Pablitos Haus - gewesen sei, sie alle angewiesen, so zu tun, als wäre alles noch beim alten. Dona Soledad begrüßte mich wie immer aus der Küche, und ich schaute sie nicht eigentlich an. Lidia, Rosa, Pablito und Nestor spielten perfekt ihre Rollen, um mich nichts von ihren wahren Aktivitäten ahnen zu lassen.
»Warum nahm der Nagual all diese Mühe auf sich, Gorda?«
»Er wollte dich vor etwas bewahren, aber mir ist noch nicht klar, wovor. Er hielt dich absichtlich von uns allen fern. Er und Genaro befahlen mir, mich nie blicken zu lassen, wenn du da warst.«
»Hatten sie dies auch Josefina befohlen?«
»Ja. Sie ist verrückt und kann nicht anders. Sie wollte dir ihre törichten Streiche spielen. Sie folgte dir überall, und du hast es nie gemerkt. Eines Abends, als der Nagual dich in die Berge mitgenommen, stieß sie dich beinah im Finstern in eine Schlucht. Der Nagual entdeckte sie noch rechtzeitig. Solche Sachen tut sie nicht aus Bosheit, sondern weil sie es genießt, so zu sein. Das ist ihre menschliche Form. So wird sie bleiben, bis sie diese verliert. Ich sagte dir ja schon, daß sie alle sechs ein bißchen daneben sind. Das mußt du wissen, um ihnen nicht ins Netz zu gehen. Falls du dich aber fangen läßt, sei ihnen nicht böse. Sie können nicht anders.«
Sie schwieg. Ich nahm an ihrem Körper ein fast unmerkliches Zucken war. Ihre Augen gingen auseinander und ihr Kinn
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