Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft
fiel herab, als ob ihre Kiefermuskeln erschlafft wären. Ich beobachtete sie gespannt. Sie schüttelte ein paarmal den Kopf. »Ich habe eben etwas gesehen«, sagte sie. »Du bist genau wie die Schwesterchen und die Genaros.«
Sie lachte leise. Ich sagte nichts. Ich wollte, daß sie sich unaufgefordert mir erkläre.
»Sie alle sind böse auf dich, weil ihnen noch nicht gedämmert ist, daß du kein bißchen anders bist als sie«, fuhr sie fort. »Sie sehen in dir den Nagual, und sie begreifen nicht, daß du dich auf deine Weise gehenläßt, wie sie auf ihre Weise.« Pablito, sagte sie, flenne und jammere und spiele dauernd den Schwächling. Benigno spiele den Schüchternen, der nicht mal wagt, die Augen zu öffnen. Nestor spiele den Weisen, der alles weiß. Lidia spiele die harte Frau, die jeden mit einem Blick vernichten kann. Josefina sei die Verrückte, der man nicht trauen darf. Rosa sei das aufbrausende Mädchen, das die Mücken frißt, die sie stechen. Und ich sei der Trottel aus Los Angeles, der mit dem Notizblock rumläuft und lauter dumme Fragen stellt. Und wir alle liebten es, so zu sein, wie wir sind! »Ich war einst eine fette stinkige Frau«, fuhr sie nach einer Pause fort. »Ich ließ mich gern wie ein Hund rumstoßen, solange ich nur nicht allein war. Das war meine Form.
Ich werde den ändern erzählen müssen, was ich an dir gesehen habe, damit sie sich nicht durch dein Tun und Handeln beleidigt fühlen.«
Ich wußte nichts zu erwidern. Ich fühlte, daß sie unleugbar recht hatte. Was dabei für mich entscheidend war, war nicht die Richtigkeit ihrer Feststellungen, sondern die Tatsache, daß ich selbst Zeuge gewesen war, wie sie zu ihrer unabweisbaren Schlußfolgerung gelangt war. »Wie hast du das alles gesehen?« fragte ich. »Es kam mir einfach«, erwiderte sie. »Wie kam es dir?«
»Ich spürte, wie das Gefühl des Sehens sich über meine Schädeldecke ausbreitete, und dann wußte ich, was ich dir eben gesagt habe.«
Ich ließ nicht locker und bat sie, mir dieses Gefühl des Sehens ausführlich zu beschreiben, das sie erwähnt hatte. Nach kurzem Zögern willigte sie ein und berichtete mir von dem gleichen Kitzelgefühl, das ich bei meinen Zusammenstößen mit Dona Soledad und den Schwesterchen so deutlich gespürt hatte. Diese Empfindung, so sagte la Gorda, setzte an ihrer Schädeldecke ein und liefe dann über Rücken und Hüften in ihren Unterleib. Sie spürte dies als verzehrendes Jucken in ihrem ganzen Körper, und dies Jucken verwandelte sich dann in das Wissen, daß ich mich wie alle andren an meine menschliche Form klammerte - nur daß die besondere Art, wie ich das tat, ihnen unbegreiflich war.
»Hast du eine Stimme gehört, die dir all das sagte?« fragte ich. »Nein, ich sah einfach alles, was ich dir über dich gesagt habe«, antwortete sie.
Ich wollte sie fragen, ob sie in einer Vision gesehen habe, wie ich mich an etwas festklammerte, aber ich verzichtete auf die Frage. Ich wollte nicht meinem üblichen Verhalten frönen. Außerdem wußte ich auch so, was sie meinte, als sie sagte, sie habe >gesehen<. Das gleiche war mir widerfahren, als ich mit Rosa und Lidia zusammen war. Plötzlich >wußte< ich, wo sie wohnten. Ich hatte keine Vision ihres Hauses gehabt. Ich spürte einfach, daß ich es wußte.
Ich fragte sie, ob sie ebenfalls das trockene Geräusch einer brechenden Holzröhre an der Halswurzel gespürt habe. »Der Nagual hat uns alle gelehrt, wie man das Gefühl an der Schädeldecke bekommt«, sagte sie. »Aber nicht alle von uns können dies; das Knacken in der Kehle ist noch schwieriger, und keiner von uns hat es je gespürt. Es ist seltsam, daß du es hast, wo du doch noch leer bist.«
»Wie wirkt dieses Geräusch? Und was ist es?«
»Das weißt du besser als ich. Was soll ich dir noch sagen?« antwortete sie mit rauher Stimme.
Sie merkte offenbar selbst, daß sie ungeduldig wurde. Sie lächelte verschämt und senkte den Kopf.
»Ich komme mir blöd vor, wenn ich dir Dinge erzähle, die du bereits weißt«, sagte sie. »Stellst du mir diese Fragen, um zu prüfen, ob ich wirklich meine Form verloren habe?« Ich sagte ihr, ich sei verwirrt, denn ich hätte dieses Gefühl, ich wisse wohl, was das besagte Gefühl sei, und doch wisse ich nichts darüber, weil ich, um wirklich etwas zu wissen, darauf angewiesen sei, mein Wissen auch in Worten ausdrücken zu können. In diesem Fall wisse ich nicht mal, wo beginnen. So bleibe mir eben nichts andres übrig, als ihr Fragen zu
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