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Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft

Titel: Don Juan 05 - Der zweite Ring der Kraft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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aber nur die Zauberer einsetzen.
    Wenn la Gorda und die Schwesterchen mir vorhin demonstriert hatten, daß die Kunst des Träumers darin besteht, die Bilder seiner Träume mit Hilfe seiner Aufmerksamkeit festzuhalten, so hatten sie mir den praktischen Aspekt von Don Juans System gezeigt. Sie waren Praktiker, die über den theoretischen Aspekt seiner Lehren hinausgegangen waren. Um mir eine Demonstration dieser Kunst zu bieten, mußten sie ihren >zweiten Ring der Kraft< oder die Aufmerksamkeit für das Nagual< einsetzen; und ich mußte, um ihrer Kunst gewahr zu werden, das gleiche tun. Ja, es war klar, daß ich meine Aufmerksamkeit auf beide Bereiche gerichtet hatte. Vielleicht praktizieren wir alle dauernd beide Wahrnehmungsweisen, entscheiden uns aber dafür, die eine isoliert im Gedächtnis zu halten und die andere auszuschalten - oder vielleicht speichern wir sie, wie ich es getan hatte. Unter gewissen Bedingungen von Streß oder bedingungsloser Hingabe taucht die zensierte Erinnerung dann wieder auf, und wir haben zwei getrennte Erinnerungen von ein und demselben Vorgang. Was Don Juan bei mir so hartnäckig zu besiegen oder vielmehr zu unterdrücken suchte, war nicht meine Vernunft - im Sinn der Fähigkeit zu rationalem Denken -, sondern meine Aufmerksamkeit für das Tonal<, oder mein Bewußtsein von der Welt im gewöhnlichen Sinn. Sein Motiv, warum er dies wollte, erklärte mir jetzt la Gorda, als sie nämlich feststellte, daß die gewöhnliche Welt für uns nur deshalb existiert, weil wir ihre Bilder festzuhalten wissen; wenn man folglich die zur Erhaltung dieser Bilder notwendige Aufmerksamkeit aufgibt, bricht die Welt zusammen. »Der Nagual hat uns gelehrt, daß es nur auf die Praxis ankommt«, sagte la Gorda plötzlich. »Sobald es dir gelingt, deine Aufmerksamkeit auf die Bilder deines Traumes zu richten, hängt deine Aufmerksamkeit für immer fest, und schließlich kannst du wie Genaro werden, der die Bilder jedes beliebigen Traumes festhalten konnte.«
    »Jede von uns hat noch fünf weitere Träume«, sagte Lidia. »Aber wir haben dir den ersten gezeigt, denn dies war der Traum, den der Nagual uns gab.«
    »Könnt ihr den jederzeit, wenn ihr es wollt, zu träumen anfangen?« fragte ich.
    »Nein«, erwiderte la Gorda. »Das Träumen verlangt zuviel Kraft. Soviel Kraft hat keine von uns. Weißt du, warum die Schwestern eben sich so lange über den Boden rollen mußten? Beim Rollen gab die Erde ihnen Energie ab. Vielleicht kannst du dich auch daran erinnern, sie als leuchtende Wesen gesehen zu haben, die ihre Energie aus dem Licht der Erde bezogen. Der Nagual sagte, die beste Art, sich Energie zu holen, besteht natürlich darin, die Sonne in die Augen, besonders ins linke, scheinen zu lassen.« Das war mir neu. Dies sagte ich ihr, und sie schilderte mir ein Verfahren, das Don Juan sie gelehrt hatte. Während sie sprach, erinnerte ich mich, daß Don Juan auch mich dieses Verfahren gelehrt hatte. Es bestand darin, den Kopf langsam hin und her zu bewegen und dabei mit dem halb geschlossenen linken Auge das Sonnenlicht aufzufangen. Auf diese Weise, so hatte er gesagt, könne man nicht nur die Sonne nutzen, sondern jede Art Licht, das einem in die Augen scheint.
    La Gorda fuhr fort und erklärte, der Nagual habe ihnen empfohlen, sich ihren Schal um die Hüften zu wickeln, um die Hüftknochen beim Rollen zu schützen.
    Ich sagte, daß Don Juan mir nie etwas von diesem Herumrollen erzählt hätte. Darauf erwiderte sie, daß nur Frauen sich auf diese Weise rollen können: sie haben einen Uterus, und die Energie geht direkt in den Uterus; durch das Herumrollen verteilen sie die Energie auf den übrigen Körper. Ein Mann dagegen muß, um sich mit Energie aufzuladen, auf dem Rücken liegen und die Knie in der Weise anziehen, daß seine Fußsohlen sich berühren. Die Arme muß er mit senkrecht erhobenen Unterarmen seitwärts strecken und die Finger krallenartig senkrecht spreizen. »Wir träumen diese Träume seit Jahren« sagte Lidia. »Diese Träume sind unsere besten, weil da unsere Aufmerksamkeit vollkommen ist. Bei den anderen Träumen, die wir haben, ist unsere Aufmerksamkeit noch unsicher.«
    Dieses Festhalten der Traumbilder, sagte la Gorda, sei eine Kunst der Tolteken.
    Nach jahrelanger mühsamer Übung, so meinte sie, habe jede von ihnen gelernt, in jedem beliebigen Traum eine bestimmte Tat auszuführen. Lidia könne auf allem laufen, Rosa könne sich an allem festhalten, Josefina könne sich hinter allem

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