Donaugrund (German Edition)
aufzugeben? War sie nach Hause gegangen, um sich selbst zu bedauern und in Ruhe ihre Wunden zu lecken? Möglich. Oder … Natürlich bestand die Gefahr, dass ich mich täuschte. Aber ich hatte so eine Ahnung, dass wir Simone Geier an dem Ort finden würden, an dem für sie das Ende begonnen hatte. Und wenn ich recht hatte, dann durften wir keine Zeit mehr vergeuden.
»Moritz, du lässt dir die Adresse von Frau Geier geben und fährst direkt dorthin. Falls sie da ist, holst du dir Verstärkung und gehst rein – zur Not mit Gewalt.«
Moritz nahm beflissen den Autoschlüssel, den Raphael ihm ohne weiteres Nachfragen in die Hand drückte.
»Und wir beide machen einen kleinen Spaziergang«, sagte ich an Raphael gewandt und zerrte ihn mit mir durch die Glastür nach draußen. Ich hoffte, dass mich das mulmige Gefühl in meinem Bauch trog. Trotzdem wollte ich lieber keine Zeit mehr verlieren.
Ich sah sie schon an der Brückenbrüstung stehen, als wir im Laufschritt die Thundorferstraße erreichten. Mit hängenden Schultern und geneigtem Kopf starrte Simone Geier in die Strömung. Es taute, der Donaupegel stieg, und die Strudel unter der Brücke waren heute mit Sicherheit noch um ein Vielfaches stürmischer als an jenem Abend im Dezember, an dem Jan Wahlner an exakt derselben Stelle in den Fluten verschwunden war. Mühsam versuchte ich, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.
Wir überquerten die Straße, trabten am Salzstadel vorbei und unter dem Brückturm hindurch. Simone Geier regte sich nicht, stand nur da und wandte ihren Blick nicht von der Donau ab.
»Du machst das, oder?«, flüsterte Raphael. Dabei konnte sie uns bei der Lautstärke, mit der die Donau unter der Brücke hindurchdonnerte und sich an den Pfeilern brach, ohnehin nicht hören.
Ich nickte knapp, ignorierte das Stechen in meiner Seite und atmete noch einmal tief durch. »Geh bitte an ihr vorbei. Ich rede mit ihr, du kommst von hinten. Für den Fall, dass …« Für den Fall, dass ich Simone in Panik versetzte und sie sich kurz entschlossen doch noch über die Brüstung stürzen wollte? Sollte ich vorsichtshalber gleich die Wasserrettung verständigen? Aber bis die hier waren … Mir fehlte die Geduld, und ebenso bezweifelte ich, dass Simone Geier sie hatte, falls sie tatsächlich plante, ihrem verkorksten Leben ein Ende zu setzen. Ich nickte Raphael ein letztes Mal zu, er schlug schnellen Schrittes den Weg an Simone Geiers Rücken vorbei ein und achtete sorgsam darauf, sie in weitem Bogen zu umgehen.
Ich kramte fieberhaft in meinem Gehirn, mit welchen Worten ich ihr gegenübertreten wollte. Was konnte ich tun, um sie einerseits nicht so sehr in die Enge zu treiben, dass es doch noch zu einer Kurzschlussreaktion kam, sie andererseits aber zum Eingestehen der Wahrheit zu bewegen? Würde sie alles abstreiten? Noch immer ohne konkreten Plan trat ich langsam auf sie zu und hoffte, dass sie mich wegen des donnernden Flussrauschens nicht bemerkte, bis ich sie erreicht hatte.
Ich hatte Pech. Sie musste gespürt haben, dass ich hinter ihr war, jedenfalls drehte sie sich um – dabei trennten mich noch mindestens zwei Meter von ihr. Ihr Gesicht war nass von Tränen, die Augen hinter der Brille gerötet. Ansonsten zeigte ihr Gesicht keine Regung, keine Panik, kein Erschrecken; noch nicht einmal ein Erkennen ließ sich an ihren Zügen ablesen. Nur ihre Lippen bewegten sich in einem fort wie in einem stummen Gebet.
Ich ging einen Schritt auf sie zu, wusste nichts zu sagen, wusste auch gar nicht, ob es sinnvoll war, sie anzusprechen. Sie wich zurück und drängte sich an die Brüstung, also blieb ich stehen. Immer noch murmelte sie vor sich hin und starrte durch mich hindurch. Schließlich musste ich etwas sagen. Ich hatte sie durchschaut und vorausgeahnt, wo wir sie finden würden. Nun würde ich auch die richtigen Worte finden. Hoffte ich.
»Genau hier war es, Frau Geier.« Die Aufregung presste mir die Kehle zusammen, aber erstaunlicherweise hörte man das meiner Stimme kaum an. »Genau an dieser Stelle, oder?«
Simone Geier nickte langsam, wie in Trance.
Einen weiteren kleinen Schritt ging ich auf sie zu, dann jedoch zuckte sie zusammen und schien aus ihrer Erstarrung zu erwachen. »Es war alles umsonst«, sagte sie leise und wischte sich mit der flachen Hand über die tränen- und rotzverschmierten Lippen. »Es war alles umsonst.« Sie lachte hysterisch auf, und ich machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Beinahe hatte ich sie
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