Donner: Die Chroniken von Hara 3
langweilten, sondern die Sache selbst in die Hand nahmen und das eine oder andere auch ohne Hilfe von oben zustande brachten. Wie sollte sich denn auch jemand darüber freuen, jahrhundertelang Klagen und Betteleien anhören zu müssen? Oder diese Schmeichler – wie bitte sollte jemand die ertragen? Also, ich an Meloths Stelle könnte es jedenfalls nicht.
Die Wände der Schlucht wurden immer höher, wir kamen der Treppe mit jedem Schritt näher. Jetzt holte mich Typhus ein. Offenbar hatte sie jede Geduld verloren.
»Wenn wir doch bloß im Süden geblieben wären«, jammerte sie. »An einem warmen Fleckchen Erde. Mit einem Zuber heißen Wassers, gutem Essen und einem bequemen Bett. Hätten wir doch bloß den Winter irgendwo abgewartet! In der Zeit hätte ich Shen ausgebildet. Vielleicht hätte er mir dann schon helfen können. Oder wir hätten die Wegblüten wieder erweckt. Stattdessen stolpern wir wie ruhelose Seelen durch diese Eisberge, klappern mit den Zähnen, essen Fleisch, das noch nie mit einem Körnchen Salz in Berührung gekommen ist, und haben schon völlig vergessen, worum es sich bei Seife eigentlich handelt.«
Ich schnaubte bloß. Man könnte ja fast denken, ich hätte sie gezwungen, sich uns anzuschließen.
Manchmal erinnerte mich Typhus wirklich an ein verwöhntes kleines Mädchen.
»Du kannst jederzeit umkehren.«
Sie murmelte ein paar unflätige Worte und holte aus einer der Satteltaschen ein kleines Buch heraus, in dem ich auf Anhieb die
Feldaufzeichnungen. Cavalar.
wiedererkannte.
»Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, dass man nicht stiehlt?«
»Spar dir deine Predigten!«, herrschte sie mich an. »Das hat mir Rona selbst gegeben.«
»Das glaube ich nie im Leben.«
»Dann frag sie doch!«
Ich entblödete mich nicht, aus der Reihe auszuscheren, um auf Rona zu warten.
»Sag mal, hast du Typhus tatsächlich die Aufzeichnungen des Skulptors gegeben?«, fragte ich sie im Flüsterton.
»Sie kann sehr überzeugend sein«, gestand Rona verlegen.
»Aber sie lügt doch schlimmer als jede Schlange!«
»Jetzt reicht’s aber, Ness«, fuhr mich Rona an. »Von dir brauche ich mir nichts vorwerfen zu lassen. Ich glaube, dass ich richtig gehandelt habe. Und schaden wird es auf keinen Fall.«
Ich las jedoch in ihren Augen, dass sie ihre Schwäche bereits bereute, und hob die Hände, um ihr zu verstehen zu geben, dass jeder nach seinem eigenen Willen leben sollte. Daraufhin stapfte ich zu Typhus zurück.
»Und? Glaubst du mir jetzt?«, zischte sie, während sie mit eisigen Fingern die Seiten umblätterte. »Warum sollte ich dich anlügen? Vor allem, wenn es um derartige Nichtigkeiten geht. Cavalar ist ein komischer Verrückter.«
»Tatsächlich?«
»O ja! Aus diesem Geschwafel soll einer klug werden. Es enthält fast nichts, was von Wert ist.«
»Das behauptest du.«
»Mir ist völlig einerlei, ob du mir glaubst oder nicht«, erklärte sie, schlug das Buch zu und steckte es zurück.
»Antworte mir doch bitte auf eine Frage.«
»Nur zu«, brummte sie mit ausgesuchter Höflichkeit.
»Was ist das Herz des Skulptors?«
»Wo hast du denn diesen Ausdruck aufgeschnappt?«
»Den hast du im Schlaf gemurmelt.«
»Eine schlimme Angewohnheit«, gab sie kleinlaut zu. »Ich hoffe, so ein Fehler wird mir nicht noch einmal unterlaufen. Also gut, ich antworte auf deine Frage, schließlich steckt kein Geheimnis dahinter. Das Herz des Skulptors ist ein Artefakt, das Cavalar in seinen letzten Lebensjahren eigenhändig geschaffen hat. Mit ihm kann man jedes seiner Werke zerstören. Der Turm hat dieses Artefakt lange besessen und versucht zu verstehen, wie es funktioniert. Doch dann haben Rethar und ich es gestohlen und mit seiner Hilfe die Treppe des Gehenkten genommen, sodass wir endlich weiter nach Norden vorstoßen konnten. Dazu musst du wissen, dass den Zugang zur Treppe des Gehenkten früher eine solide Burg geschützt hat, die der Burg der Sechs Türme in nichts nachstand.«
»Ach ja?«
»Hast du etwa noch nie das
Lied von der Silberträne
gehört? Mhm … Andererseits ist das so überraschend nun auch wieder nicht, schließlich zeugen von dieser Festung heute nicht einmal mehr Ruinen. Mit dem Herz des Skulptors haben wir sie nämlich in Schutt und Asche verwandelt.«
»Und wo ist dieses bemerkenswerte Dingelchen jetzt?«
»Für immer verloren. Unseretwegen, denn wir haben es über Gebühr beansprucht. Die Kraft, die wir in dieses Artefakt geleitet haben, hat es gleichsam gesprengt.
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