Donnergrollen: Der fünfte Fall für Jan Swensen (German Edition)
aufsteigen, dieselbe Wut, die er damals empfunden
hat. Dass Oleander auch der Name einer Pflanze ist, hat er erst viel später erfahren,
Oleander, auch Rosenlorbeer genannt. Aber auch das nachträgliche Wissen darum hat
ihn nie mit der ungeilen Entscheidung seiner Mutter versöhnt, obwohl diese Pflanze
eine Eigenschaft besitzt, die ihm sofort gefallen hatte: Sie ist giftig und kann
sogar tödlich sein.
Manchmal
ist Oleander davon überzeugt, dass sein ausgefallener Name mit dazu beigetragen
hat, dass es ihm besonders leicht gelingt, andere Menschen mit Worten zu verletzen,
sozusagen mit Worten Gift zu versprühen. Dabei ist sein Talent eindeutig aus der
Auflehnung gegen seinen Vater entstanden, dessen an ihn gerichtete Worte nur die
berufsbedingte Befehlsform kannten und die ihn letztendlich so früh aus dem Elternhaus
getrieben hatten.
Der Sturm kommt von Nordwest, fegt
scharf über das Wasser, kehrt die Gischtwolken auf den sich auftürmenden Wellen
zusammen und zerstäubt sie im nächsten Moment im Licht der Sonne in tausende von
Diamanten. Das ist die Sprache der Natur, die er ohne Worte versteht. Ein einziger
Blick genügt, und der Wirrwarr seiner Gedanken fliegt über die Dünen landeinwärts,
sein Kopf wird leer, der Körper strotzt voller Lebensenergie. Er stapft ohne Überlegung
drauflos, den weißen Strand entlang in Richtung Hanstholm. Das Meer hat über Nacht
den Wohlstandsmüll darauf abgeladen, Plastikflaschen, Marmeladengläser, verrostete
Farbeimer stecken im Schlick, Kunststoffkisten und Unmengen knallroter Gummihandschuhe
verschwinden langsam unter dem Sandgebläse des Windes. Zwischen aufgetürmtem Schwemmholz
liegt eine einsame tote Kegelrobbe mit tiefen Wunden im Fell, kreisrunde, blutverkrustete
Löcher. Die Möwen haben mit ihrer Mahlzeit bereits begonnen, ohne große Eile, und
sie kommen wieder, wenn sie erneut hungrig sind. Oleander stoppt seinen Marsch und
beugt sich gerade über den Kadaver, als sein Handy zu klingeln beginnt. Er fingert
es aus der Brusttasche und nimmt das Gespräch an.
»Ole?«,
fragt eine weibliche Stimme.
»Freja,
wo verdammt noch mal steckst du?«, braust er auf.
»Heeeh,
reg dich ab! Ich habe gestern schon versucht, dich zu erreichen! Warum gehst du
nicht ran, wenn dich jemand anruft?«, braust die Stimme zurück.
»Es gibt
Personen, mit denen ich im Moment nicht reden will!«
»Was heißt
das denn? Du meinst doch nicht etwa Kilian?«
»Kilian?
Hast du Kilian getroffen?«
»Erzähl
mir nicht, dass dir das nicht klar war. Kilian ist bei jedem Weltcup dabei.«
»Habt ihr
über mich gesprochen?«
»Ich habe
mit ihm gesprochen, aber nicht über dich.«
»Ich will
alles wissen, Freja! Was habt ihr besprochen, und wo bist du jetzt? Ist er bei dir?«
»Flughafen
Charles de Gaulle, und zwar allein! Die Fluglotsen streiken. Hier herrscht das reinste
Chaos. Und hör auf, weiterhin so mit mir zu sprechen, sonst bringe ich das Chaos
von hier mit – verstanden? – spätestens dann, wenn ich zurück bin. Schätze allerdings,
vor morgen Abend werde ich es auf keinen Fall schaffen, so wie es hier aussieht.«
»Okay, wir
reden, wenn du da bist. Sollte ich nicht in der Wohnung sein, treibe ich mich an
irgendeinem Strand rum. Ich hab das Handy dabei.«
»Ich komm
so schnell ich kann, klaro!«
»Und wie
sind deine Runs gelaufen?«
»Der schiere
Wahnsinn, sag ich dir! Das waren Bedingungen, wie ich sie noch nie vorher hatte.
Ich sag nur, das war der Traum vom perfekten Surfen, volle Windpower, das Meer hat
gebrodelt, und ich bin bestimmt mit 38 Knoten über die Strecken. Ich war wie im
Rausch! Hat aber trotzdem nur zur Vizeweltmeisterin gereicht.«
»Nur? Du
spinnst doch Freja! Gratuliere, ich freue mich für dich. Wenn du hier bist, reden
wir weiter.«
»Okay, bis
bald!«
Er drückt
auf die Taste des Handys, steckt es in die Jackentasche zurück. Das Bild von Kilian
ist noch da. Seine großen Augen strahlen ihn an, das sommersprossige Gesicht weicht
nicht von seiner Seite, verfolgt ihn penetrant und herausfordernd, auch dann noch,
als er sich entschließt umzukehren und den Weg zurück stapft.
*
Kilian ist knapp ein Jahr älter
als Oleander und der Sohn von Heinrich Martens, dem Wirt aus dem Smeerkrog. Obwohl
die beiden Jungen bereits die Hälfte ihres Lebens auf derselben Schule sind, haben
sie nichts gemeinsam, gehen sich vorsichtshalber aus dem Weg. Erst als Kilian erfährt,
dass Oleander den gleichen, abgedrehten Spleen für das Meer hegt wie er,
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