Doppelte Schuld
eingesperrt hatte – und warum. Ein Rätsel, wie der Tod Frank Beyers, der eigentlich Benjamin Dimitroff hieß, und der Überfall auf Katalina. Das alles schien mit der Suche nach seiner Mutter zusammenzuhängen, aber wie?
Er schloß die Augen. Im Halbschlaf war er plötzlich wieder ein kleiner Junge, der sich in den Keller von Hesemanns Mühle geschlichen hatte, ein streng verbotenes Paradies. Die Mühle war vor vielen hundert Jahren in den Fels gebaut worden, und dort unten im Keller traf man auf seine stets feuchten, speckig glänzenden Granitflanken, aus denen das Wasser lief nach dem großen Herbstregen und kleine Tümpel auf dem Boden bildete, die schlierig schillerten.
In den Keller durfte man nur, wenn etwas abgestellt werden mußte. Leere Einmachgläser, kaputte Stühle, Koffer, der Kinderwagen, Ersatzreifen. Oder wenn man etwas holen mußte: Kartoffeln aus der Schütte, in der sie jeden Herbst eingelagert wurden. Im Frühjahr entwickelten sie Augen, das war nicht weiter schlimm, schlimm war nur, wenn man hineinlangte und in eine verfaulte griff.
Der Keller ist kein Spielplatz, sagte Amelie. Sagten Friedrich und Wilhelm. Sagte seine Mutter, wenn er schon wieder die Taschenlampe stibitzt hatte, die Wilhelm hütete wie seinen Augapfel.
Aber das sagte sie immer seltener.
Er erinnerte sich an unfaßbar weiche Haut und einen unbeschreiblichen Duft. An eine Stimme, die ihm abends vorlas. An das Lied, mit dem sie ihn in den Schlaf schickte. An ihr Lachen, wenn er mit ihr raufte. An ihr Flüstern, wenn sie wieder erst spät nach Hause gekommen war und er schon im Bett lag, nach einem aufregenden Tag in den Wiesen und Kornfeldern und heugefüllten Scheunen, und nur aufwachte, um beruhigt wieder einzuschlafen, weil sie ja jetzt da war.
Seltsam, daß einen die Kindheitsgerüche nie verlassen. Moritz hatte sie noch heute in der Nase, den Geruch nach saurer Milch im Kuhstall. Den beißenden Gestank aus dem Schweinekoben. Den würzigen Duft von Schafen und Lämmern. Die Mühle war ein Paradies gewesen, aus dem ihn selbst das Verschwinden seiner Mutter nicht vertrieben hatte. Erst als er begriff, daß sie nicht zurückkommen würde, hatte er sich tagelang in den Schafstall verkrochen, im Heu zusammengerollt und geweint, bis der Hund ihn holen kam. Ajax war völlig außer sich, weil er Moritz’ Trauer kaum ertragen konnte.
Seitdem hatte er ihre Briefe ungeöffnet beiseite gelegt, auch die, die sie ihm zum Geburtstag schrieb. Eine trotzige Geste, mit der er nur sich selbst strafte. Aber manchmal stellte er sich noch heute die alte, kindische Frage: Warum hast du mich verlassen? Warum bei Wilhelm abgestellt, deinem alten Vater, wie eine Fehllieferung, bei der es sich nicht lohnt, sie zurückzugeben?
Selbst das Geld, das sie für ihn angelegt hatte und von dem er erst nach Wilhelms Tod erfuhr, hatte ihn nicht versöhnt mit ihr, obwohl es ihm ein verdammt komfortables Leben ermöglicht hatte – jedenfalls bis er nach Blanckenburg kam.
Und auch da war sie präsent, Mathilde Marie von Bergen.
Er schrak hoch. Da war ein Geräusch gewesen. Oder hatte er nur davon geträumt? Vom Knacken der Balken? Vom Rascheln und Trippeln von Mäusen auf dem Heuspeicher? Vom steten Tropfen des Regens durch ein undichtes Dach?
Moritz setzte sich auf und fuhr sich mit den Händen durch Gesicht und Haare. Die Bartstoppeln kratzten, seine Haare klebten, und die Klamotten rochen nach kaltem Schweiß. Sein Magen knurrte, und kalt war ihm jetzt auch.
Mathilde Marie von Bergen. Seine Mutter. Und sein Vater? Er wußte es erst seit dem Frühjahr vor drei Jahren. Sie hatte alles aufgeschrieben. Aber der Brief war nicht an ihn gerichtet gewesen, nicht an ihren Sohn. Sondern an ihren Verlobten, Gregor von Hartenfels. Auch ihn hat sie verlassen, dachte Moritz.
Sie waren zu dritt den Gang entlanggelaufen, den unterirdischen Gang, der von der alten Schloßküche zur Krypta führte. Die Krypta lag begraben unter dem Schutt der Kirche, die man gesprengt hatte nach dem Krieg. Aber die Krypta selbst und der jahrhundertealte Geheimgang dorthin blieben unzerstört.
Katalina lief voraus, dahinter der Graf, Moritz bildete die Nachhut. Die Vorstellung hatte ihn berührt, daß sie den Weg der Sargträger gingen. Den Weg, den Liebende und Lüstlinge nahmen, wenn sie unerkannt hinunter ins Dorf gelangen wollten. Den Fluchtweg – und die einzige Möglichkeit, im Fall von Krieg und Belagerung Lebensmittel ins Schloß zu schaffen.
Die Tür zur Krypta
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