Doppelte Schuld
war unverschlossen gewesen, dahinter erstreckte sich ein Kreuzgewölbe, darin Reihen von Särgen, aus Stein, aus Eisen, einige mit, andere ohne Deckel. Der Sarg, auf den Gregor zuging, stand an der Stirnseite der Wand, über ihm, in einer Nische, das in Stein gemeißelte Reliefbild eines Ritters. Gawan Graf von Hartenfels.
Gregor hatte sich neben den Sarg gekniet und mit dem Taschenmesser eine Bodenplatte hochgehebelt. Darunter lagen die zu Staub zerfallenden Reste einer Rose, ein Foto, ein Bündel beschriebener Seiten und ein Päckchen aus grauem, steif gewordenem Tuch.
Es war der Brief, der ihn erschüttert hatte; der Brief, der alles erklärte. Sein Vater war kein braver Soldat gewesen, dem sich Mathilde hingegeben hatte, bevor er an die Ostfront zog, weil die Wahrscheinlichkeit groß war, daß er nicht zurückkommen würde. So lautete die fromme Lüge Wilhelms, damit hatte der Großvater den Enkel schützen wollen. Aber Moritz war kein Kind der Liebe. Er war das Ergebnis einer Vergewaltigung durch Rotarmisten.
Ich bin ein Russenbastard, dachte er. Kann man da nicht verstehen, warum sie mich verlassen hat? Ein solches Kind kann man nicht lieben.
Blödsinn, hörte er Katalina protestieren. Ich habe das Kind auch gewollt, das von einem meiner Vergewaltiger stammte, nur mein Vater hat das als einen Anschlag auf seine Ehre gesehen und es mir aus dem Leib getreten. Das Kind. Mein Kind. So hat es bestimmt auch deine Mutter empfunden.
Aber warum …?
Hast du sie vermißt?
Ja. Erst schon.
Hat dir etwas gefehlt in deinem Leben?
Ja. Nein.
Kannst du ihr nicht endlich verzeihen?
Vielleicht.
Als sich ein Schlüssel im Schloß drehte, merkte er, daß er die Fäuste geballt hatte. Und dann öffnete sich die Tür, langsam, stilgerecht quietschend. Im Rahmen ein schlanker, nicht sehr großer Mann, blaue Augen, wulstige Lippen, Glatze, Alter unbestimmt, aber sicher über siebzig. Dahinter zwei jüngere Männer mit glatten Gesichtern und in grauen Blousons, der eine in Jeans, der andere in einer Art Kniebundhose, die sich von dem Älteren mit einem militärisch wirkenden Gruß verabschiedeten und die Tür hinter ihm wieder verschlossen.
Der Glatzkopf kam mit ausgestrecktem Arm auf ihn zu. Reflexhaft schüttelte Moritz die dargebotene Hand.
»Guten Tag, Herr von Bergen. Oder bestehen Sie auf Ihrem angenommenen Titel?«
Die Stimme hatte etwas von gut gebohnerten Holzfußböden und altem Malt Whiskey: gereift und veredelt. Und von einer Schlange: Der Mann lispelte, wenn auch nur leicht.
»Wer sind Sie?«
»Das tut im Moment nichts zur Sache.«
»Und wo …«
»Auch dazu später mehr.« Der Alte nahm den Stuhl bei der Lehne, stellte ihn in die Mitte des Raumes, setzte sich und schlug die Beine übereinander.
Braune Budapester, hellgraue Socken, registrierte Moritz.
»Wollen Sie nicht auch …?« Er deutete auf die Pritsche.
Moritz verschränkte die Arme über der Brust und blieb stehen. »Klären Sie mich bitte auf, was das hier soll.«
»Natürlich. Deshalb bin ich hier.« Der Mann mit den blauen Augen holte ein Päckchen Zigaretten aus der Jackentasche, Benson & Hedges, und hielt sie ihm hin. Moritz schüttelte den Kopf.
Das Feuerzeug klickte. Der Mann nahm einen tiefen Zug. Man rauchte also. Das taten heutzutage nur noch Politiker und Journalisten. Oder Ärzte.
»Sie haben eine Suchanzeige aufgegeben, nicht wahr? Sie suchen nach Ihrer Mutter, Mathilde von Bergen.«
»Rechtfertigt das Freiheitsberaubung?« Es störte Moritz, daß sein Entführer ihn nicht nur einsperrte, sondern seine Gefängniszelle auch noch als Aschenbecher benutzte.
»Wissen Sie, Herr von Bergen: Auch wir suchen Ihre Mutter.«
»Wer ist wir?«
Der Mann inhalierte und blies den Zigarettenrauch in Moritz’ Richtung. »Aber wir sind sicher, daß sie an ihrem Sohn weit mehr Interesse hat als an uns, äh, alten Bekannten.«
»Und was wollen Sie von ihr?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte«, sagte der andere gemütlich. »Damit will ich Sie gar nicht erst belasten. Mich interessiert nur: Was wissen Sie über Sirius?«
»Nichts.« Der Anzug wirkt ein bißchen feingemacht, dachte Moritz. Nicht ganz stilsicher, der Herr. Die Zigarette hält er zwischen Daumen und Zeigefinger. Prollig. Oder Attitüde.
»Ach, Herr von Bergen, ich bitte Sie, ›Mathilde Marie von Bergen – bitte in Blanckenburg melden! Kennwort: Sirius‹.«
Das war der Wortlaut der Suchmeldung, die er und der Mann von der Detektei Hermes an allen möglichen Adressen im
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