Dorfpunks (German Edition)
Schule ging es mit mir derweil immer weiter bergab. Meine Eltern schlugen mir daher einen Wechsel auf die Realschule vor. Zum einen meinten sie damit einer eventuellen intellektuellen Überforderung meines Gehirns aktiv entgegenzutreten, zum anderen schien diese Idee diplomatisch geschickt, denn ich wäre aus dem Einflussbereich der konservativen Studienräte, die auf mich allergisch reagierten, heraus und hineinversetzt in den Wirkungsbereich der liberaleren Realschullehrer, die gleichzeitig zum Kollegium meines Vaters gehörten. Er hätte also sowohl auf mich wie auf sie mäßigend Einfluss, glaubten sie. Fehleinschätzung. Ich fand alle Lehrer Scheiße. Bis auf Herrn Meese und Frau Nevermann. Und mit meinem Vater, den ich als Geschichtslehrer hatte, verstand ich mich auch. Aber das durfte ich vor meinem Punkkollegium so wenig zugeben wie er vor seinem Lehrerkollegium.
Ich trieb mein Unwesen in der neuen Schule mit Sonny und Bernd, manchmal auch mit Piekmeier und Flo, obwohl die schon drei Jahre älter waren.
Gleich neben der Schule gab es so eine Art Seniorenwohnblock. Dort hatte Karl Kindermann, der beste Freund von David, der schon volljährig war, eine kleine Wohnung gemietet. Nachts konnten wir hier über den Balkon einsteigen. Im Wohnzimmer stand immer ein Sofa mit Decke für einsame Rumtreiber bereit, manchmal auch noch Wein. Diese Wohnung war ziemlich konspirativ, sie sah aus wie die RAF-Wohnungen, die man aus dem «Spiegel» kannte, kahl, trist, existentialistisch. Kindermann war ein sonderbarer, einnehmender Mensch. Ein hünenhafter, nordischer Bauernsohn, dabei sehr intelligent und gebildet und von ausgesucht freundlichem, ruhigem und humorvollem Temperament. Er sprach nicht viel, aber dafür war jedes seiner Worte überlegt. Meistens saß er in einem Hinterzimmer und übte Kirchenorgel. Wenn er nicht zur Schule wollte, was des Öfteren vorkam, schrieb er sich selbst Entschuldigungen, auf denen stand: «Entschuldigung, ich konnte nicht kommen.» Das war das Lustigste für mich. Er war frei.
David hing oft bei ihm ab, und sie schlaumeierten über dies und das. Ein Dritter gehörte auch noch zu ihrem Bund. Er war so groß wie die beiden anderen, aber der definitiv Bestaussehende. Wir nannten ihn HB, er kam aus Blome, und sein Vater war Kapitän. Auch er war eine Ausgeburt an Selbstsicherheit, intelligent, gebildet und sehr auf seinen eigenen Stil bedacht. Sobald ein Zweiter etwas gut fand, was HB eigentlich auch mochte, warf der es ab wie eine alte Haut. Ab und zu gesellte sich noch ein vierter Älterer zu ihnen. Betelkorn war der Styler mit den besten Punksprüchen, er spielte gut Gitarre, kam als Erster mit Ska an und war 1986 einer der ersten Hip-Hopper und Breakdancer von Schmalenstedt! Zusammen mit dem Keller von David und einem kleinen Laden, der «der Laden» hieß, gehörte Kindermanns Wohnung zu den musikalischen und politischen Initiationsstätten unseres losen Haufens.
Die vier, sie waren etwa fünf Jahre älter als wir, hatten alle Infos, Bücher, Platten, Styles, die wir brauchten. Sie erklärten uns die RAF, den Kapitalismus, den Kommunismus, die Dialektik, das System oft und immer wieder auch vergeblich. Wir Jüngeren waren viel hedonistischer als sie. Aber über Jahre waren sie unser unausgesprochener Ältestenrat, in ihrem Kreis begannen viele gemeinsame Spuren.
Hier bei Kindermann hatte ich auch Sid Schick kennen gelernt. Als ich noch zur Schule ging, galt er als einer der coolsten Punkstars von Schmalenstedt. Er hatte hinten groß RAF auf seiner Lederjacke stehen, war scharf, spröde und schnell und hauste bei seinem Vater zu Hause im Keller. David protegierte Sid als Spitzentypen.
Ich wollte gerne sein Freund sein, weil er so lässig war, und darum rief ich ihn öfter an und fragte, ob er mit mir zu Meier fahren wolle, ich würde heute Nacht wieder abhauen. Die ersten Male lehnte er aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen ab, aber eines Tages rief er zurück. Wir verabredeten uns und fuhren nachts zusammen zu Meier. Langsam freundeten wir uns an. Ich war oft bei ihm, weil dort alles erlaubt war, und er selten bei mir, weil dort wenig erlaubt war.
Meinen Eltern gegenüber gab er sich sehr verschlossen, was ich persönlich cool fand. Sie aber nahmen es als Warnzeichen, sie empfanden ihn wohl eher als Gefahr für mich. Zumindest meine Mutter, die immer überbesorgt war, was sich überhaupt nicht mit meinem Freiheitswillen vertrug. Im Gegenteil, je ängstlicher sie wurde, desto
Weitere Kostenlose Bücher