Dorfpunks (German Edition)
nachts mit unseren unangemeldeten und frisierten Mofas zu Meier. Von Bushaltestelle zu Bushaltestelle, damit die Bullen uns nicht erwischten. Bei Meier wartete Honk manchmal förmlich auf die Gelegenheit, endlich zuschlagen zu dürfen. Eines Abends stand ich vor der Eingangstür von Meier. Ich beobachtete versunken die Hundertschaften von Mücken, die aufgedreht in der Luft um das leuchtende Eingangsschild tanzten. Hier war nicht nur Menschentreff, sondern auch eine der angesagtesten Mückendiscos von Schleswig-Holstein. Immer mal wieder zündelte ein Bauer mit einem aufgedrehten Gasfeuerzeug ein Loch in ihre Population, ein schrecklicher Disco-Brand, zugefügt von den sonderbaren Göttern mit Oberlippenbärten und in Wrangler-Jeans.
Plötzlich kam Honk herausgetänzelt und sang mir zu: «Gleich geht’s los, gleich geht’s los.» Er schien in freudiger Erwartung, schlüpfte eilig aus seiner Lederjacke und bat mich, sie zu halten. Die Tür ging erneut auf, und ein Typ stürmte heraus, deutlich größer und stärker als Honk, mit stierem Blick und groben Fäusten. Honk drehte sich zu ihm um und nutzte den Schwung dieser Drehung für einen ersten und finalen Schlag, der den Bauern derart heftig mit dem Hinterkopf an die Wand klatschte, dass er sofort ohnmächtig zu Boden sank. Entspannt und siegesbewusst zog Honk seine Lederjacke wieder an und ging tanzen. Sein Erfolgsrezept bestand aus der Kombination von totaler Angstlosigkeit und dem unbedingten Willen zur Gewalt. Er war der Kleinste, Schwächste unter uns, aber an ihn traute sich niemand heran.
Eines Tages erzählte er mir, er habe nur einen Lebenstraum: Er wolle gerne einmal zum Grab von Bruce Lee nach Hongkong trampen. Und das tat er dann eines Tages auch. Er stellte sich in Schmalenstedt an die Umgehungsstraße und trampte los. Nach einer halben Stunde wurde er mitgenommen, die zwanzig Kilometer bis nach Saale. Dort versuchte er weiterzukommen, aber niemand nahm ihn mit. Er stand zwei geschlagene Stunden. Dann stellte er sich auf die andere Straßenseite, Daumen hoch, er wurde sofort mitgenommen, kaufte sich, glücklich zurück in Schmalenstedt, bei Käthe eine Kiste Bier und trank die zu Hause zügig aus. Es wurde ein schöner Abend. Das war’s mit Hongkong.
Kann man ja auch mal machen.
Wenn er eine seiner Meinung nach spektakuläre Geschichte erzählte, zog er sich jedes Mal bei den besten Stellen ein unsichtbares Rollo von der Stirn über die Augen, mit beispielsweise folgenden Worten:
«… Rolo Aller, der Typ kommt an, ich zieh ihm ’n Ding, dass er Buchstaben spuckt, und denn gibt er mir auch noch 50 Mark, ich: Hä? Rolo Aller! Rolo!» Immer wieder wurde das imaginäre Rollo gezogen. Das sah sehr gut aus.
Jahre später sollte daraus die Grundidee für einen Film werden, der heute in Hamburg Weltstatus erreicht hat. Er heißt «Rolo Aller», und ich spiele darin mit.
Der Guru aller Säufer war Pierre Bollwinkel. Er war für uns Punks eine legendäre Gestalt. An der Tür seiner Wohnung stand auf einem Messingschild:
«Pierre Bollwinkel. Dipl. Ingenieur»
Das ist er wohl nie gewesen. Pierre war ein kleiner dunkelhaariger Typ mit einem unordentlichen Moustache, krummem Rücken und einem zahnlosen Grinsen. Solange ich ihn kannte, sah er aus wie sechzig. Sein Paarungsdrang war immens, und er zeugte unaufhörlich Nachkommen, die in der Stadt die «Eulen» genannt wurden. Eifrig traten sie, ein paar Jahre später und kaum geschlechtsreif, in seine Fußstapfen. Pierre nahm so gut wie immer Alkohol ein. Alkohol war sein Beruf. Wenn irgendwo Alkohol ungenutzt herumstand, nahm er ihn sofort ein. Lecker Alkohol. Einmal hatte er auf dem Markt in der Telefonzelle mit seiner Frau ein erotisches Stelldichein, genau gesagt, versuchten die beiden, ebendort zu kopulieren. Dabei verlor Pierre irgendwie seine Hose samt dem Haustürschlüssel, sodass er etwas später mit nacktem Arsch und einer Tüte Bier gut gelaunt auf seiner Haustürschwelle saß. Freundlich grüßte er die Vorbeigehenden, stundenlang, bis zwei entnervte Polizisten ihm Einlass verschafften.
Pierre lebte im HOG, im «Haus ohne Gesetze». Das HOG war das härteste Haus am Platz, ein altes, runtergekommenes Gebäude mitten im Zentrum. Dort wohnten er und einige der härtesten Weinbrüder der Gegend, alle pflegten ein entspanntes Verhältnis zu Betäubungsmitteln und Gewalt. Auf dem Schild mit den Hausregeln stand als oberste Regel, dass es keine Regeln gibt. So was beeindruckte uns junge
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