Dorfpunks (German Edition)
konnte er noch mit Mühe aus dem kalten Wasser halten. Katharina versuchte mit aller Kraft, die Kuh von Kalle herunterzuziehen, aber es gelang ihr nicht. Es gab nur eine Möglichkeit: Sie musste nach Hause rennen und eine Säge holen, um die Kuh über Kalle zu zerteilen. Und das möglichst schnell, denn zum einen würde er in absehbarer Zeit ertrinken oder an Unterkühlung sterben, zum anderen konnte ein Jäger den Schuss gehört haben. Katharina rannte, so schnell sie konnte, sie hatte Kalle vorher noch einen Stein unter den Kopf gelegt, damit er nicht unter Wasser geriet. Je länger Kalle wartete, desto erschöpfter und müder wurde er unter der Last ihrer Beute, er konnte auch kaum noch Luft bekommen. Schließlich kam Katharina zurück und fing an, die Schwarzbunte über ihm zu zersägen. Das Wasser färbte sich blutrot, während der Fleischberg langsam leichter wurde. Das dauerte seine Zeit, und als Kalle endlich von der Last befreit wurde, war er am Ende seiner Kräfte. Für das Essen der nächsten Wochen war allerdings gesorgt, es gab Kuh.
Mutterkorn
Die Wochen zogen während meiner Lehre zäh durchs Land. Es ist ein sonderbarer Effekt, dass das Tempo des Lebens und der erlebten Zeit mit dem Älterwerden immer mehr zunimmt. Wenn man jung ist, erscheint einem die bevorstehende Zeit wie ein endloser Ozean, besonders wenn die Dinge, die man auf unabsehbare Zeit tun muss, nicht die sind, die man tun will. Drei Jahre Töpfereinsamkeit lagen vor mir. Ich fühlte mich gedemütigt. Aber das ist ja wohl auch der Sinn des Spruchs, der auf einen wie mich gemünzt war: Lehrjahre sind keine Herrenjahre.
Im Sommer durfte ich mir keinen Urlaub nehmen, weil dann ab und zu Touristen hinter unserer Kirche auftauchten, wohingegen im Winter oft schlicht niemand kam. Während meine Freunde also am Strand lagen, saß ich vor dem heißen Ofen. Ich bin jetzt noch neidisch auf all die verpassten Momente.
In der Woche ging ich meist um zwölf ins Bett, nachdem ich den Abend allein in meinem Zimmer verbracht hatte. Auf dem Markt war abends nichts mehr los, ich konnte es mir sparen, dorthin zu gehen. Ich saß vor einem riesigen Schwarzweißfernseher mit drei Programmen und einem Drehschalter, vor meiner dürftigen Plattensammlung, immer wieder «Singles Going Steady» von den Buzzcocks, die Swell Maps mit «Jane from Occupied Europe», Tapes von Killing Joke, Siouxsie und Pere Ubu. Vor Zeichnungen, Büchern, Collagen für mein Fanzine und selbst genähten Hosen. Die Wände hatte ich auf Punkmanier mit Zeitungen tapeziert und den Schrank so vor der Tür aufgestellt, dass niemand hineinschauen konnte. Mein Zimmer stank nach den Ausdünstungen der Jugend. Vor allem nach dreckigen Socken. Und nach unter jugendlichen Achseln vergorener Zeit.
Ab und zu traf ich mich mit ein paar Freunden, um ins Kino zu fahren («Blade Runner» war für mich die Offenbarung) oder mal nach Eutin in Inas Disco. Dort trafen wir dann die Punks aus der Umgebung und tauschten uns mit denen aus. Aber irgendwie entstand nie ein engerer Draht zu den Eutinern und den Kielern, die waren so straight, hatten alle Regeln drauf, hießen Kiki, Pogo, Ratte und Sid und hätten im Leben niemals ABC gehört. Wir waren für sie so was wie sonderbare Kunstpunks oder so, denn wir hielten uns nicht an die strengen Kleidercodes. Wir stanken nach Feuer, trugen zerrissene Gabardinehosen und hörten Tapes, auf denen direkt hinter den Pistols Kajagoogoo kam. Was sollte das denn bitte sehr für eine Mischung sein?
Malte Becker, der jüngere Bruder von David und Flo, arbeitete in Eutin in einer Disco hinterm Tresen. An einem Herbstabend fuhren Fliegevogel, Eisenkopf und ich dorthin, um ihn zu besuchen. Wir tranken ein paar Cola Rum und hingen am Tresen ab. Vom Innenhof aus konnten wir beobachten, wie sich ein Typ auf dem Klo einen runterholte. Das Licht war hinter ihm und warf seine erregte Silhouette auf die Milchglasscheibe des Klofensters, er merkte davon nichts. Als wir Kieselsteine gegen das Fenster warfen, packte er sein Ding erschreckt ein und rannte weg.
Sonst war nicht besonders viel los, und irgendwann langweilten wir uns und beschlossen zurückzufahren. Aber kurz vor der Abfahrt bot mir Eisenkopf noch eine Mikropille an. Ich wusste nicht, was das war, und beäugte sie skeptisch. Die Pille war etwa so groß wie der Kopf einer Stecknadel, und Eisenkopf erklärte, sie bestünde aus feinstem LSD, er würde mir raten, erst mal die Hälfte zu nehmen. Ich hatte schon öfter LSD
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