Dorn: Roman (German Edition)
»Harjenner!«
Das Stimmgewirr wurde leiser, verstummte aber nicht gänzlich.
»Heute ist der Tag, da unser Volk am Scheideweg steht. Ihr folgt mir in die Schlacht! Ihr folgt euren Befehlshabern in die Schlacht! Und hier an unserer Seite steht der Markgraf Deckard von Falkenberg und seine Klinge Erlenfang, die einst dem großen König Aan gehörte. Auch er wird euch tapfer und weise durch diesen Sturm führen.«
Die Männer jubelten mir zu, doch es zog wie durch einen Schleier an mir vorbei. König Aans Schwert? Ich wusste, das Fjelding zu seinem persönlichen Vergnügen manchmal historische Studien betrieb. Aber König Aans Schwert? Er musste es doch eigentlich besser wissen: Aans Schwert hatte den Namen Navriel getragen und war …
Doch ich vertagte den Gedanken, als mir etwas anderes in den Sinn kam: Möglicherweise versuchte Fjelding seinen Männern Mut zu machen. Und wenn man ein legendäres Schwert an seiner Seite wusste, konnte das beflügeln.
»Streitet für euer Volk! Streitet dafür, dass unser Stern am Himmel der Völker nicht erlöschen wird! Nicht heute!«
Jubel brandete auf, die Männer reckten ihre Waffen in die Höhe und klopften sich gegenseitig auf die Schultern, um sich Mut zu machen und sich anzutreiben.
König Fjelding reckte sein Schwert Dramjord in die Höhe.
»Harjenn!«, rief er so kräftig er konnte über die Köpfe seiner Männer hinweg den Namen ihres Gründerkönigs. »Harjenn!«
Und ein Chor aus über zweitausend Männern stimmte mit Gebrüll in den Ruf ein.
»Harjenn!«, klang es schallend. Und auch ich rief den Namen des Königs, dessen Volk ich mit meinem Leben verteidigen würde.
Dann schwärmten die Männer unter Leonhraks und meinem Kommando auf die Wälle aus. Der Marsch den Männern voran, bis ganz nach außen auf den Brecher kam mir vor wie der längste Weg meines Lebens. Ich hörte jeden Herzschlag, jeden Atemzug, jedes Scheppern meiner Schulterplatten gegen das Kettenhemd. Ich spürte meinen Helm schwer auf meiner gepolsterten Bundhaube lasten und das Lederband unter meinem Kinn scheuern.
Schließlich stand ich dort, an der Stelle, die am weitesten über den äußeren Wall hinausragte, den Wind im Gesicht. In der Ferne konnte ich die Riesen sehen, wie sie sich formierten. Es war, wie ich befürchtet hatte: Die Riesen waren uns Zahlenmäßig überlegen. Und ich hatte das beunruhigende Gefühl, dass ein Riese mehr als einen Harjenner aufwog. Die Wälle Lukaes waren unsere einzige Chance.
Eine Weile standen wir dort oben. Angestrengt, wachsam, wissend, dass jeder Fehler unser letzter sein konnte. Ich stand auf dem Brecher, der südlich des Tores in die Ebene hinausragte und konnte Leonhrak sehen, der auf dem Brecher nördlich des Tores an gleicher Stelle stand. Sollten es die Riesen auf das dicke Holztor abgesehen haben, hätten wie sie in der Zange, um sie von oben zu bekämpfen.
Dann erklangen die tiefen Hörner der Riesen erneut. Diesmal wurden es mehr und mehr, bis ein vielstimmiges Brummen über der Armee stand. Sie formierten sich ein letztes Mal, bildeten mehrere Regimenter aus. Dann setzten sie sich in Bewegung und nahmen den Marsch in Richtung Lukae auf.
Als die Hörner der Riesen verstummt waren, veränderte sich die Geräuschkulisse. Zwar umfing uns keine Stille, aber eine eigenartige Ruhe kehrte über dem Schlachtfeld ein. Es gab nichts außer dem Wind zu hören und dem unheimlichen Stampfen der grauen Masse, die sich langsam aber unaufhaltsam auf uns zuschob.
Einer der Männer stimmte ein Lied an.
In der Stille über allen Feldern
Ist’s ein Wind, der braust und fegt
Er ist der letzte klare Odem
Der sich weit und breit noch regt
Und sein Brausen ist sein lautes Klagen
Über allen Schmerz der quält
Wenn trauernd über allen Feldern
Er die Zahl der Toten zählt
Nach und nach fielen die meisten Männer mit tiefen Stimmen ein, sodass die Wälle Lukaes in dem Grollen versunken waren, das das Lied heraufbeschworen hatte. Eine Gänsehaut zog sich über meinen Rücken hinauf bis in meine Haarspitzen. Leonhrak drüben auf dem anderen Brecher begann mit dem Schwert auf seinen Rundschild zu schlagen und nach und nach fielen alle Schildträger der Harjenner ein.
Dann erreichten die Riesen die erste der Markierungen auf der Ebene. Es war, als hielte die Welt für einen Augenblick den Atem an und dann …
»Los!«, gab Behrend den Befehl für die Triböcke frei. Es ratterte und ächzte, als die Wurfmaschinen ihre tödliche Ladung in Bewegung setzten.
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