Dorn: Roman (German Edition)
hatten.
Schließlich, als die Sonne ihren Zenit lange überschritten hatte, begannen die Bemühungen der Riesen abzuebben. Ihre Versuche, die Wälle Lukaes mit Leitern zu erklimmen, waren vorerst gescheitert. Stattdessen zogen sie sich hinter eine Linie aus Schilden zurück, die ihre Nachhut aufgebaut hatte, und die durch Tierhäute und Flechtwerk, die zwischen Pfähle gespannt waren, verstärkt wurde. Hinter diesem errichteten Wall waren die Riesen vor den Pfeilen der Harjenner sicher und dennoch nahe genug an den Wällen, um von unseren Katapulten und Triböcken keinen Beschuss befürchten zu müssen.
Zwar wirkten die Riesen wie viel zu groß geratene Wilde, doch führten sie einen erschreckend organisierten Krieg. Während uns die erste Streitmacht also auf Abstand umzingelt hatte, begann vielleicht eine knappe Meile hinter dem Wall das Lager der Riesen. Die aus gegerbten Tierhäuten gebaute Zeltstadt war im Laufe des Vormittags errichtet worden, während der erste Teil der Riesenstreitmacht uns beschäftigt hatte. Die Zelte standen viel zu weit entfernt, um von uns beschossen zu werden.
Behrend und seine Ingenieure hatten in der Zwischenzeit die Versorgung unserer Truppen übernommen. Große Kessel und Fässer mit Trinkwasser wurden auf Wall und Brecher geschafft. Man kümmerte sich um die Toten und Verwundeten, die man in die Heilhäuser und Lazarette unten in der Stadt brachte. Oder aufs Totenfeld.
Besorgt beobachtete ich die Riesen. Ich hatte den Helm vom Kopf genommen und rieb mir den Nacken. Jeder Knochen im Leib tat mir weh. Mein Körper war unter dem Kettenhemd übersät mit blauen Flecken. Eine Mischung aus Schweiß und Blut – das von Riesen als auch das von Menschen – durchtränkte meine Rüstung und Kleidung. Jemand reichte mir eine große Kelle mit Wasser, die ich so hastig trank, dass ich zu husten begann. Dann strich ich mir die schweißnassen, dunklen Haare aus dem Gesicht und machte mich ächzend auf den Weg zum Tor. Leonhrak hatte mir durch das Winken einer blau gefärbten Flagge signalisiert, dass wir uns zur Besprechung treffen sollten. Ich stimmte dem vorbehaltlos zu.
Als ich über dem Tor eintraf fielen Leonhrak und ich uns in die Arme. Mein Bruder im Geiste sah nicht viel besser aus als ich, aber auch ihm schien glücklicherweise nichts Ernsthaftes widerfahren zu sein.
»Sie ändern ihre Taktik«, schnaufte ich völlig geschafft.
»Ja«, meinte Leonhrak mit Sorgenfalten auf der Stirn. »Oder sie sammeln lediglich ihre Kräfte. Das ist ein gut organisierter Angriff, Deckard. Sie scheinen zu wissen, dass sie den längeren Atem haben.«
Dann hob er winkend die Hand. Ich sah über die Schulter, wem der Gruß galt. Andrak, Brimbart und König Fjelding stießen auf dem Wall zu uns. Gekämpft hatte von ihnen bisher nur Andrak, doch der war zwar verschwitzt, aber nicht wie wir mit Blut besudelt – hatte er doch in erster Linie Bogenschützen und Fernkämpfer unter seinem Kommando.
Fjelding umarmte seinen Sohn. »Bei Wahyrras Bart, euch ist nichts zugestoßen!«
Sie klopften einander auf die Schultern.
»Die Wäscherinnen werden mich verfluchen«, grinste Leonhrak.
Doch der König ging nicht darauf ein. »Wie steht es um die Männer? Brauchen eure Bataillone eine Pause?«
Leonhrak und ich tauschten einen ernsten Blick aus.
»Eine Pause brauchen wir alle«, meinte er. »Aber ich halte es für sinnvoll, wenn wir bis zum Abend weiterkämpfen. Wenn es so weiterläuft, halten wir ihnen bis dahin stand.«
»Völlig richtig«, pflichtete ich ihm bei. »Wenn wir wissen, dass wir noch einmal so viele ausgeruhte Männer in der Hinterhand haben, halten wir durch. Schont die frischen Kräfte, so lange es eben geht!«
»Also gut«, nickte Fjelding. Es war kein falsches Heroentum in seinem Blick erkennbar, nur kühle Berechnung, wie er diese Schlacht zu Gunsten seines Volkes wenden konnte. »Wie sieht es mit Gefallenen aus?«
»Ich habe noch keine genauen Informationen einholen lassen. Ich würde schätzen, ich habe in meinen Reihen drei Dutzend Tote und ebenso viele Verletzte.«
Es war so bitter, wenn das Leben eines Menschen nicht mehr war als eine Zahl. Ich schloss die Augen und ging durch, was ich gesehen oder gehört hatte in den letzten Stunden. Dann gab auch ich eine Schätzung ab: »Etwa dasselbe Bild bei mir. Etwas mehr Verwundete vielleicht.«
Betretenes Schweigen breitete sich unter uns aus.
»Wahyrra möge ihren Seelen gnädig sein«, murmelte Andrak in seinem Bart.
»Alle
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