Dorn: Roman (German Edition)
so laut ich konnte.
»Runter hier! Geordnet, aber zügig. Wer am nächsten zum Wall steht, geht zuerst.«
Ein Schlag traf mich am Schulterblatt, stark genug, um mich vornüberzuwerfen. Reaktionsschnell fingen mich zwei Krieger auf und stellten mich wieder auf die Beine. Das war ein Stein aus einer Riesenschleuder gewesen. Schnell vergewisserte ich mich, dass ich keinen größeren Schaden davongetragen hatte. Meine Schulterplatte war an der Seite eingedrückt, es schmerzte wie nach einem Faustschlag, aber nichts blutete oder schien gebrochen. Ich schenkte den Göttern einen kurzen Blick gen Himmel – das war knapp!
Die Riesen bekamen den Stamm in diesem Moment zu Fall. Teile von Geröll fielen aus dem Konstrukt des Brechers heraus und der Weg zwischen den Zinnen gab nach. Zwei Nordmänner fielen unter Schreien hinunter, die restlichen wurden von Kameraden gepackt oder konnten sich irgendwie festhalten.
Verflucht!
»Schneller!«, rief ich. Jetzt war es gleich. Hauptsache, ich brachte so viele Männer wie möglich in Sicherheit. Im Wehrgang klaffte eine Lücke von einer Schrittlänge. Sie war leicht zu umgehen oder zu überspringen, doch es musste schnell gehen, bevor die Riesen noch mehr Stämme herausreißen konnten. Ich trieb die Nordmänner vor mir her. Bloß runter! Krachend fiel ein neues Stück des Brechers und die Lücke klaffte größer. Schließlich waren die Männer alle auf der anderen Seite. Ich drückte mich am gegenüberliegenden Rand entlang und spürte im Boden unter meinen Füßen die mächtigen Schläge der Riesen, die auch dort schon begonnen hatten, die Stämme zu Fall zu bringen. Den letzten Schritt sprang ich.
Ein Blick zur Seite verriet mir, dass auch Leonhrak nicht mehr lange hatte, bis er seine Stellung würde aufgeben müssen. Schließlich hatte ich das Stück erreicht, an dem der Brecher in den Außenwall überging.
Keuchend blieb ich stehen und richtete den Blick hinter mich. Immer mehr Stämme wurden herausgerissen und fielen.
Es dauerte seine Zeit. Vielleicht zwei oder drei Stunden, doch am Ende waren nur noch Ruinen übrig, wo am morgen noch die gewaltigen Festungsanlagen über den Wall hinaus in die Ebene geragt hatten. Jetzt standen sie da wie verfaulte Zähne in einem schlechten Gebiss. Unsere wirksamste Verteidigung war zunichte.
Staub ging von dem Geröll der Ruinen auf, als die Riesen gegen Abend endlich abgezogen waren. Feuer loderten auf in ihrem Zeltlager. Ja, sie hatten sich ihre Nachtruhe wahrlich verdient. Sie hatten die Hoffnung eines ganzen Volkes an nur einem Tag eingerissen.
War das der Wille der Götter? Dass ein einziger Elb den Zorn ganzer Völker gegeneinander ausspielte? Aber über Gnade und Ungerechtigkeit der Götter philosophierte ich bereits seit zwölf Jahren nicht mehr. Was auch immer die Götter taten in ihren himmlischen Hallen – gerechter machten sie die Welt hier unten dadurch nicht.
»Verflucht«, schrie ich. Die schwarze Wut der Hilflosigkeit senkte sich mit einem Mal auf meinen Blick, bahnte sich ungehindert einen Weg in mir. Ich trat auf das Ende eines Baumstamms ein, das nun mehr schief aus dem Stumpf eines Brechers ragte. Wieder und wieder. Ich schlug mit der Hand zu, mit der Faust. Schließlich zog ich sogar Erlenfang und hieb in ein geborstenes Stück Tannholz. Die Klinge blieb stecken und beim Versuch, sie herauszuziehen, fiel ich auf den Hosenboden. Erschöpft ließ ich auch den Oberkörper nach hinten fallen und starrte in den Abendhimmel.
Da erschien über mir eine Gestalt. Ich blinzelte, dann erkannte ich Andrak, der mir eine Hand hinhielt. Zögernd griff ich zu und mit eine Ruck stellte mich der Mann wieder auf die Beine. Dann drehte er Erlenfang mit einer geschickten Hebelbewegung aus dem Holz und reichte es mir.
»Du hast tapfer gekämpft«, meinte er.
»Aber ich habe verloren«, antwortete ich matt.
Andrak nickte. »Aber tu mir den Gefallen und lass die Männer dich nicht so sehen. Wenn du entmutigt bist, dann gräme dich! Aber bitte nicht vor den Augen derer, die zu dir aufblicken.«
Und damit ließ er mich allein.
Die Dämmerung war bereits heraufgezogen, als ich mich auf die breiten Stufen zurückzog, die vom Vorhof hinauf zur Hölzernen Halle führten. In meiner Hand befanden sich eine Schüssel, gefüllt mit einem dickflüssigen Eintopf und ein Kanten Brot, den ich ab und an lustlos hineintunkte. Das Kettenhemd und jedwede andere Rüstung hatte ich neben mir abgelegt, nachdem ich mir das Blut vom Gesicht gewaschen
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