Dorn: Roman (German Edition)
leeren Hallen meiner Gedanken wider wie ein Echo im Gebirge. Hastig zog ich mir Kleidung über und sprang förmlich in meine Stiefel aus Robbenleder. Geschwind warf ich Erlenfang über und fischte aus der Obstschale auf meinem Sekretär eine Handvoll Aprikosen, die ich auf meinem Weg durch die Gänge und über die Treppen des Palastes als schnelles Frühstück verschlang.
Sie sind da! Das ging schneller, als erwartet. Ich hatte Eklipto von Pantus’ Aussage so gedeutet, dass mir durchaus noch der ein oder andere Tag bleiben würde, um mich mental darauf vorzubereiten, dass hier bald das Chaos losbrechen würde.
Schnell fand ich meinen Weg in das königliche Arbeitszimmer. Zeitgleich mit mir fanden sich in großer Hast etwa zwei Dutzend Leute hier ein.
Die Versammlung, die sich um Ellyns riesigen Schreibtisch bildete, war voller Kommandanten des Ordens der Steinernen Hand. Aber auch Lemander, Lia und den Prinzen der Nordmänner sah ich in Begleitung von Brimbart.
Ellyns Blick war stechend, aber nicht unerbittlich. Ein Kommandant hatte bereits damit begonnen, der Königin Bericht zu erstatten. Offenbar hielt er es für zu dringend, als dass er auf die Anwesenheit aller hätte warten können.
»Bitte fahr fort, es eilt!«, forderte ich ihn auf, denn er hatte kurz innegehalten, als ich den Raum betreten hatte.
Der Kommandant war ein hagerer Mann, mit sehniger Haut an Gesicht und Händen und einem dünnen Spitzbart. Er setzte mit seinen Erörterungen wie gewünscht wieder ein.
»Um auch den persönlichen Berater der Königin kurz ins Bilde zu setzen«, versetzte er als Seitenhieb auf mein hektisches Erscheinen, »muss ich konstatieren, dass unsere militärische Lage alles andere als günstig ist. Wir haben zweieinhalbtausend Ordenskrieger unter Waffen in der Hauptstadt. Wenn die Berichte über das Heer, das die Markgrafen von Gamar und Gramenfeld aufgestellt haben korrekt gedeutet wurden, beträgt die Truppenstärke, die den Großen Kamm überquert hat, mindestens das Zehnfache.«
Das Zehnfache! Dieses Wort traf mich wie ein Schlag. Ich war militärisch bewandert, aber kein übergroßes strategisches Genie. Doch auch mir war völlig klar, dass es bei einer Übermacht in dieser Größenordnung Serion von Gamar und Pelikor von Gramenfeld selbstverständlich früher oder später gelingen würde, an irgendeiner Stelle die Mauern zu nehmen. Bei diesen Zahlen würde es in Bedeutungslosigkeit versinken, dass die Ordensleute im Schnitt besser ausgebildet und erfahrener im Kampf waren.
Und so erklärte sich auch Ekliptos Andeutung von selbst, wie König Aan es einst geschafft hatte, diese Stadt – als sie noch von Elben errichtet und verteidigt war – zu stürmen. Er hatte durch die Vereinigung der einzelnen Fürstentümer und Stämme einfach ein Vielfaches mehr an Männern und Frauen gehabt, die er gegen die Verteidigung der Elben hatte anbranden lassen können. Genau wie die See an ihren besonders stürmischen Tagen, würde er sich irgendwann eine Bresche geschlagen haben. Und wenn ein Teil der Mauern, oder gar eines der Stadttore erstmal unter Kontrolle der Aggressoren war, dann konnten diese ihre zahlenmäßige Überlegenheit voll ausspielen.
»Was ist mit den Truppen von Dinster und Lilienbach?«, fragte Lemander dazwischen. »Kommt aus dieser Richtung keine Unterstützung? Denen kann das Ansinnen von Markgraf Serion doch nicht recht sein.«
Der hagere Ordensmann sog die Luft ein, als müsse er sich stark beherrschen. »Erimee von Dinster hat Teile ihrer Truppen in Marnstadt zusammengezogen. Das große Heer hat in strategisch wichtigen Punkten rund um die Marn, den Ammsee und die Küste Lager errichtet, über deren Truppenstärke nicht viel bekannt ist. Gamar und Gramenfeld verstehen es geschickt, unsere Beobachter abzufangen. Abgesehen also von der Tatsache, dass Erimee wohl ebenfalls nicht wissen wird, wie stark sie in Marnstadt eingekesselt ist, wäre sie auch klug beraten, einen Militärschlag möglichst lange hinauszuzögern.«
Lemander nickte ernüchtert. »Natürlich. Krieg auf offenem Land birgt immer die Gefahr von Kollateralschäden an Bevölkerung und Ernten. Der schiere Versuch, sich einem potentiell übermächtigen Feind auf freiem Feld zu stellen wäre äußerst risikoreich. Dumm für uns.«
» Dumm für uns ist ein ziemlich plakativer Ausspruch, aber er trifft es wohl leider«, stimmte Eklipto zu.
»Was Lilienbach betrifft«, fuhr der Kommandant mit ernster Stimme fort, »so haben wir dort die
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