Dorn: Roman (German Edition)
da, was sich zu regieren lohnt.«
Bei den Göttern , dachte ich. Wie oft war mir dieser Wunsch in den letzten Monaten gekommen? Würde sich doch bloß endlich alles in Luft oder Rauch auflösen. Alle Streitigkeiten um Fürstentümer und Throne hätten sich erledigt.
Es war seltsam, wieder hier zu sein. Mein Gemach war dasselbe, das ich während des Konklaves bewohnt hatte. Man hatte es ordentlich hergerichtet. Sogar meine alte Kleidung, die ich bei der Flucht zurückgelassen hatte, hatte man gewaschen und in die große Truhe am Fußende des Bettes geräumt. Doch nachdem ich mir den Schmutz und die Strapazen der Reise abgewaschen hatte, holte ich mir aus dem Seesack dennoch eines der dicken Hemden, die ich im Harjenner Reich erstanden hatte. Ich hatte mich an diese Kleidung gewöhnt und sie strahlte ein gewisses Maß an Bequemlichkeit für mich aus.
In dem kleinen Spiegel, der über einem Sekretär an der Wand hing, besah ich mein Gesicht. Über die linke Wange zog sich eine dünne Narbe hinauf, ließ die Augenhöhle aus und teilte meine Augenbraue oberhalb. Noch war sie stark gerötet, aber die Heilkunst der Elbin Mavenna hatte Beachtliches geleistet. Auch meine linke Hand war erstaunlich schnell abgeheilt. Aber es hatte sich bewahrheitet, was Lia mir prophezeit hatte: Zwar konnte ich gut greifen, doch wenn es um feinere Dinge ging, versagten meine Finger. Ich musste mich vor Konzentration regelrecht anstrengen, wollte ich etwas mit Daumen und Zeigefinger ergreifen. Zu oft fiel es mir herunter, was frustrierend war. Doch in Erinnerung an Hermelink und all die anderen Gefallenen, versuchte ich meine Narben mit Würde zu tragen.
Schließlich nahm ich mein Falkenberger Rasiermesser, um meinem Bartwuchs etwas Einhalt zu gebieten. Das ständige Rasieren ohne Spiegel hatte mich in den letzten Wochen nicht gerade in einen Ausbund an äußerlicher Gepflegtheit verwandelt. Und so nahm ich mir wenigstens dazu die Zeit.
Nach einer Weile klopfte es an der Tür und Lia trat ein. Auch sie hatte sich die Zeit zur äußerlichen Pflege genommen.
»Du siehst gut aus«, sagte sie, als sie mich vor den Rasierspiegel sah, wie ich mit einem Handtuch die letzten Reste aufgeschäumter Kernseife entfernte. »Es scheint, als wärest du endlich wieder in jener Zivilisation angekommen, die dir so am Herzen liegt.«
Etwas ungelenk streifte ich mein Nordmannhemd über. »Tut sie das?«
»Du riskierst dein Leben für sie«, meinte Lia. »Warum solltest du das tun, wenn dir nichts an dem liegt, was du so verzweifelst zu retten versuchst?«
»Vielleicht möchte ich einfach nur das Sterben Tausender verhindern? Vielleicht möchte ich ihnen das Leid und Elend eines Krieges ersparen?«
»Mach die Augen auf, Deckard!«, mahnte meine Elbenfreundin. »Es herrscht längst Krieg da draußen.«
»Und er wird nur noch schlimmer, wenn wir ihn nicht beenden.«
Lia trat in die offene Balkontür, durch die das Licht der warmen Nachmittagssonne ins Zimmer strömte. »Es wird schlimmer, wenn wir meinen Bruder nicht aufhalten.«
Ich trat von hinten an sie heran. »Liebst du ihn?«
Erschrocken wandte Lia sich um.
»Leonhrak?«, fragte sie.
»Ich meine Linus.«
»Das ist eine gute Frage«, gestand sie. »Ich bin mir unsicher. Ich habe ihn nie wirklich kennengelernt. Ich bin ihm erst begegnet, als er mit seinem teuflischen Plan nach Quainmar zurückkehrte. Aber meine Eltern lieben ihn und …«
Sie stockte.
»… und?«, fragte ich nach.
»Und es ist egal, was ich auch tue. Am Ende wird irgendetwas davon falsch sein.«
Damit traf sie einen wunden Punkt. Wenn wir zwischen den Möglichkeiten wählten … wählten wir dann nicht bloß zwischen verschiedenen Übeln? War es nicht der Kern der Sache, dass wir lediglich zwischen kleineren und größeren Übeln abwogen?
»Und was ist mit Leonhrak?«, wollte ich schließlich wissen. »Du könntest sein Herz brechen.«
Lia seufzte. »Sag du es mir! Was ist mit der Königin? Liebst du sie?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Unsere Zeit zusammen war sehr sehr kurz.«
»Ist es denn so wichtig, wie viel Zeit man zusammen verbracht hat?«
»Ja«, beharrte ich. »Ich brauche Zeit, um das Herz eines Menschen kennenzulernen.«
Lia zog die Balkontür zu. »Ich glaube, du brauchst nicht viel Zeit, um das Herz einer anderen Person kennenzulernen, Deckard. Deine Fähigkeit zur Menschenkenntnis liegt nicht weit hinter derjenigen von Lemander. Ich glaube eher, du brauchst Zeit, um dein eigenes Herz zu
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