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Dorn: Roman (German Edition)

Dorn: Roman (German Edition)

Titel: Dorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Weise bereits jetzt schon aus, den alten Lemander mitgenommen zu haben, denn er erwies sich als wandelndes Liederbuch. Vor allem die Soldaten und Soldatinnen waren dankbar für jede Abwechslung und schmetterten häufig aus voller Kehle die Verse mit, die sie kannten. Viele waren alte Wanderlieder, aber auch vor Saufgesängen scheute Lemander nicht zurück. Er erntete dafür den einen oder anderen vernichtenden Blick von Hermelink, der bis zur Ankunft in der Hauptstadt ein striktes Verbot von Rauschgetränken angeordnet hatte. Das Ergebnis war, dass seine Männer und Frauen umso mehr Pfeifenkraut verbrauchten. Spannend wurde es aber vor allem dann, wenn Lemander exotische Lieder sang, deren Verse niemand außer ihm kannte. Ich wusste nicht, wie viel er in der Welt herumgekommen war oder ob er das meiste lediglich aus anderer Reisender Repertoire kannte. Beeindruckend war es dennoch meist, wie beispielsweise die Weise vom traurigen Riesen:
    Ein trauriger Riese durchstreifte die Wälder
    Tränen vergoss er so bitterlich schwer
    Wie Regen bedeckten sie Flure und Felder
    Und mündeten strömend ins endlose Meer
    Ach, misste er doch seine Liebste so sehr
    Wie sie verschieden vor Jahr und Tag
    Doch sage mir etwas, das groß genug wär’
    Und Riesenherzen zu trösten vermag
    Angeblich stammte das Lied aus den Tagen, als die nahe am Reich gelegenen Areale der verlorenen Lande noch nicht von Menschen verwaist und verlassen waren, sondern noch stolze Fürstentümer bildeten, die ein friedvolles Nebeneinander mit den Riesen pflegten.
    Doch es war gleich, ob Lemander tatsächlich selbst auf all diesen Reisen gewesen war, solange er nur meine Leute von altvorderen Tagen träumen ließ, von der Zeit der Legenden, als der Welt angeblich noch etwas von einem uralten Zauber anhaftete.
    Am Morgen des fünften Tages kamen wir schließlich an den Rand des Waldes. Das Vorgebirge war in immer weitere Ferne gerückt, bis selbst die Ausläufer des großen Kamms nur noch dünne Schatten am Horizont waren. Das Land zum Meer hin war zunächst flacher geworden und die Küstenstraße hatte weite Bögen um unwegsames Gelände und abbröckelnde Dünenhänge geschlagen. Während der schweren Herbststürme waren die hiesigen Abschnitte der Straße nur unter großen Strapazen zugänglich. Jederzeit musste mit einer Sturmflut gerechnet werden. Doch nach einigen Meilen erhob sich der Wald Arith, dessen starke Baumwurzeln das Land festgehalten hatten, sodass es höher lag und nicht auf das Niveau des Meeresspiegels bei Flut abgesunken war. Kräftige Findlinge, manche so groß, wie ganze Hütten, lagen verstreut über die Ebene, die zu dem gewaltigen, tiefen Mischwald hin anstieg.
    Hier im unbewohnten Land begann das gewaltige Nachbarfürstentum Dinster – das Land der großen Wälder. Nach Norden begrenzt durch den großen Kamm, lagen drei große und uralte Waldlandschaften auf dem Gebiet. Alle drei trugen noch die Namen, die ihnen einst die Elben gegeben hatten: Arith, Tjana und Mispel. Überhaupt waren hier in der Südhälfte des Ehernen Reiches alte elbische Einflüsse noch in den Namen vieler Orte und Landmarken gegenwärtig.
    Die Küstenstraße führte am Wald entlang, oftmals auch einige Hundert Schrittlängen in seinem Inneren. Aber stets war durch die lichten Bäume der teils meilenweite Sandstrand zu erkennen, der nicht viele Schritte unter dem Niveau des Waldes lag. Es war, als läge der Wald auf einem leicht erhöhten Plateau aus riesigen Findlingen. Und zwischen riesigen, urzeitlichen Felsbrocken hatte man auch hinabzusteigen, wollte man zu Strand und Meer.
    Wir durchquerten das riesige Gehölz auf der vorgesehenen Route der Straße, immer vom beständigen Rauschen des Meeres begleitet.
    Lia sprach mehr in der letzten Zeit. Vor allem mit Lemander, der sie und ihre Sicht der Dinge am ehesten zu verstehen schien. Besonders hatte es ihr immer und überall die Natur angetan. So raunte sie manchmal Worte in der Sprache der Elben zu den riesigen Stämmen des Waldes, oder schloss minutenlang die Augen auf dem Rücken ihres Braunen.
    »Um das Atmen des Waldes zu hören«, erklärte sie dann, oder: »Um die Worte des Meeres zu verstehen.«
    Trotz des – von Lemander inzwischen bestätigten – Wissens, dass Elben ihre Umgebung mit anderen Augen betrachteten als die Menschen, verwunderten mich ihre Antworten jedes Mal aufs Neue. Doch auf der anderen Seite nahm ich es als Lektion, dass es hier draußen mehr gab als bloß Stämme und Blätter und

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