Dornenkuss - Roman
obwohl mein Geist schon klarer wurde; zu lange hatte ich es ihnen verwehrt, sich zu schließen, und jetzt, da sie sich endlich entspannen konnten und meine Augen nichts sehen mussten, fragte ich mich, warum ich das überhaupt getan hatte.
Das war der erste Gedanke, der sich aus meinem Kopf erhob: Warum hatte ich nicht mehr geschlafen? Und trotzdem so viel geträumt, mich damit sogar in die Erschöpfung getrieben? Noch konnte ich nicht sagen, von wem ich geträumt hatte, aber das war es gewesen, womit ich meine kurzen Nächte und Nachmittage zugebracht hatte.
Ich hatte offenen Auges geträumt.
Deshalb war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, was von den Dingen, die ich in diesem Moment erlebte, Wirklichkeit war und was nicht. Durch das Rauschen hindurch hörte ich das Meer gegen Steine schlagen, es roch nach nassem Stein und Salz und verkrusteten Tauen. Der Boden unter mir war hart und kühl, obwohl ich ihn wie das weichste Himmelbett empfunden hatte. Erst jetzt nahm ich seine Unnachgiebigkeit wahr und auch meine schmerzenden Knie, auf denen ich lag und die das Gewicht meines Körpers ertragen mussten, vermutlich seit etlichen Stunden. Doch, diese Welt war real.
Stöhnend stemmte ich mich hoch und zuckte zusammen, als sich die Schrammen in meinen Handflächen öffneten. Noch immer ließ ich meine Augen geschlossen.
»Hier, trink.«
Seine Stimme erschreckte mich nicht; das Abklingen des Rauschens hatte mich auf sie vorbereitet und sie tönte nicht in meinen Ohren, sondern in meinem Kopf, was viel angenehmer war. So nahm ich es hin, als das Wesen mir einen Becher an die Lippen hielt und meinen Kopf stützte. Ich trank gierig. Ein strenger Stallgeruch stieg mir in die Nase, doch die Milch selbst schmeckte süß und säuerlich zugleich, was mich im Handumdrehen erfrischte. Ich wollte den Becher selbst nehmen und hielt ihn in beiden Händen wie ein Kind.
»Langsam«, mahnte es mich. Es war schon zu spät, ich hatte versehentlich beim Trinken geatmet und mich verschluckt, weil ich beides nicht mehr koordinieren konnte. Ich musste es wieder lernen. Ich konnte mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal Milch getrunken hatte. Wann ich überhaupt etwas getrunken hatte …
Das Essen wurde noch schwieriger. Trotzdem riss ich große Stücke von dem trockenen Weißbrot, das das Wesen mir reichte, und stopfte sie mir in den Mund, bevor ich hustend und keuchend kaute und mit jedem Bissen fähiger wurde, Überlegungen zu formen und zu Ende zu denken. Auch meine Lider wurden unruhig; meine Augen hatten genug von der Schwärze in meinem Inneren.
Ich hielt inne, das Brot fest in meiner rechten Hand, und nahm mir vor zu fragen, wie lange ich geschlafen hatte. Meine Stimme war so belegt, dass ich mich erst räuspern musste, und nachdem ich das getan hatte, fühlte ich mich doch noch zu hungrig, um zu reden, entschied mich aber, meinen Augen ihr Bedürfnis nach Licht zu erfüllen.
Blinzelnd sah ich mich um. Ich saß in einer kleinen Höhle, hoch genug, um aufrecht darin stehen zu können, und die Nischen, die in den Stein gehauen worden waren, verrieten mir, dass sich hier einst jemand häuslich eingerichtet hatte; vermutlich hatten auch Möbel in diesem kargen Raum gestanden. Jetzt gab es nur noch blanken Stein, dazu in meinem Rücken das Meer, dessen Wellenspiel sich sogar auf dem dunklen Basalt abzeichnete, und uns zwei Menschen.
Nein, kein Mensch, verbesserte ich mich sofort. Eine Sache gab es, an der ich keinerlei Zweifel hegte: Es war ein Mahr. Ich wollte ihn wie nebenbei mit meinen Blicken streifen, während ich mich umsah, unauffällig, doch es gelang mir nicht. Ich musste dieses Wesen anblicken, nicht flüchtig, sondern ausführlich und in aller Ruhe. Meine Augen erlaubten mir nichts anderes.
Mein erster Eindruck bestätigte sich sofort; kein Mann, keine Frau – sondern etwas, von dem ich wusste, dass es existierte, das ich aber bisher nie persönlich gesehen hatte. Ich hatte das Wort »Zwitter« immer als hässlich und abstoßend empfunden und auch jetzt wollte ich es nicht einmal denken. Es war zudem unmöglich zu sagen, was an diesem Wesen weiblich und was männlich war; man konnte alles sowohl dem einen als auch dem anderen Geschlecht zuordnen. Nur eine Sache hätte ich bei allem, was mir lieb war, schwören können: Es besaß nicht das, was Männer als zweites und überaus dominantes Ich in ihrer Hose trugen, sonst hätte ich mich nicht so vertrauensselig in seinen Schoß geschmiegt. Sein Schoß war
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