Dornenkuss - Roman
»Willst du nicht aussteigen?«
Nein, wollte ich nicht. Nein! Und die anderen sollten es auch nicht tun. Das war nicht der richtige Platz. Niemals war er das. Es musste sich um einen gigantischen Irrtum handeln. Doch als keiner ins Auto zurückkehrte und sie mich alleine sitzen ließen, öffnete ich die Tür und trat zu ihnen auf die Straße. Gianna schloss gerade ein niedriges eisernes Törchen zu einem Vorgarten auf, in dem ein paar steinerne Treppenstufen auf eine Terrasse führten, an die sich ein kleines unauffälliges Haus anschloss. Eine Terrasse zur Straße hinaus. Na, prost Mahlzeit. Das Schaufenster eines Einkaufszentrums war ein abgeschiedenerer Ort als das hier.
Wunderhübsch war auch der Gitterkasten einige Meter weiter, in dem die Anwohner ihre Müllbeutel lagerten. Nur dank der lärmenden Zikaden hörte man die Schmeißfliegen nicht summen. Aber immerhin gab es etwas, was die Zikaden übertönen konnte: die italienische Eisenbahn. Unter ohrenbetäubendem Lärm ratterte ein Zug hinter dem Haus vorüber.
Mit unsicheren Schritten, aber voller Wut und Unglauben, trat ich durch das Tor und nahm die kleine Treppe hinauf zu den anderen, die darauf warteten, dass Gianna die Haustür aufschloss. Ich nahm ihre Hand und schob sie weg.
»Du brauchst gar nicht erst aufzuschließen, Gianna«, raunzte ich sie an. »Dieses Haus ist ein Griff ins Klo. Es liegt am Meer!«
»Und?«, fragte sie ratlos. »Ist das ein Problem?«
»Natürlich ist das ein Problem!«, schrie ich sie an. Keine Kraft mehr, um mich zu kontrollieren. Ich hatte gerade erst die Enttäuschung von gestern Abend verarbeitet. Das hier sprengte meine Kapazitäten. Ein paar Kinder, die mit ihren bunten Fahrrädern die Straße auf und ab fuhren, hielten neben dem Volvo und schauten neugierig zu uns hinauf. Ich ignorierte sie, obwohl ich sie gerne ebenfalls angebrüllt hätte. Gianna verschränkte die Arme und trat einen Schritt von mir weg.
»Tessa hasst das Meer, sie hat Angst vor dem Meer! Und wir steigen in einem Haus am Meer ab, um sie zu uns zu locken? Klingelt es?«
Giannas Mund verkrampfte sich. »Vielleicht hättest du mir das vorher mal sagen sollen! Was dachtest du denn, wohin wir fahren?«
»In das, was du uns angepriesen hast – ein abgelegenes Anwesen in den Bergen!«
»Ich habe gar nichts angepriesen und von Bergen war nie die Rede!«, keifte Gianna zurück. »Du solltest mal lernen zuzuhören, dann hättest du auch begriffen, dass Verucchio kein Badeort ist, wie du dachtest. Dir kann man es nie recht machen, Ellie. Erst ist Madame die Dependance zu weit vom Meer entfernt, nun ist sie zu nah am Meer – was willst du eigentlich? Herrgott, kannst du dich nicht einfach mal entspannen und fünf gerade sein lassen?«
»Es geht nicht darum, was ich will, es geht darum, was Tessa lockt, und das Meer gehört ganz bestimmt nicht dazu! Es hält sie ab! Hab ich dir das nicht gesagt?«
»Du hast gesagt, dass Colin auf Schiffe und Inseln geflohen ist! Das hier ist keine Insel! Das ist ein stinknormaler Strand und total harmlos!«
Ja, so harmlos, dass es nicht einmal echte Wellen gab. Die Brandung, die sich dem wenig idyllischen Kiesstrand ergab, hatte ihre Bezeichnung nicht verdient. Ein deutscher Baggersee hatte mehr Wellengang als diese Suppe hier. Trotzdem war es das Meer, Wasser bis zum Horizont, und ich fragte mich ernsthaft, wie wir Tessa auf diesem Terrain anlocken sollten.
»Komm wieder runter, Ellie«, mischte sich Tillmann mit einem seiner abgegriffenen Standardsprüche ein. »Tessa ist irgendwo hier unten und ich glaube kaum, dass dieser Strand sie daran hindert zu kommen, wenn Colin und du … na ja.« Er verzichtete darauf, den Satz zu Ende zu führen. Vermutlich kam es ihm zu abwegig vor, dass jemand mit mir glücklich sein konnte. Ich hatte sowieso keine Aufmerksamkeit mehr für ihn übrig, da im Haus nebenan (das übrigens schöner und größer und üppiger bewachsen war als unseres) ein junger Mann in Badehose im Garten zu duschen begann und dabei lautstark sang.
»Wer ist das?« Ich funkelte Gianna drohend an. Wir waren also nicht nur direkt am Meer, sondern auch umgeben von anderen Menschen. Sogar von Kindern, die uns immer noch mit großen Augen musterten und keine Lust hatten, auf dieses teutonische Spektakel zu verzichten.
»Andrea«, antwortete Gianna mit erzwungener Ruhe. »Das ist Andrea. Und …«
»Andrea? Willst du mich verarschen? Das ist ein Mann!« Es war eindeutig ein Mann. Gerade schäumte er seine
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