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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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besorgt gefragt hatte, ob alles okay sei, weil er in der Haltung eines Siebzigjährigen, der es mit dem Rasenmähen übertrieben hatte, im Stuhl hing und rasselnd atmete. Und das nur, weil er eine Ladung Wäsche im Garten aufgehängt hatte. Paul hatte versucht, mich zu beschwichtigen, das sei alles nicht so schlimm, doch ich wusste, dass er seinen Zustand herunterspielte. Also ließ ich nicht locker, bis er mir den väterlichen Ratschlag gab, mich nicht immer so sehr mit dem Leid anderer Menschen zu überidentifizieren. Überidentifizieren! Als ob ich das planen würde. Ich konnte ihn doch nicht ansehen und nichts fühlen, wie sollte das gehen? Er war mein Bruder! Und wäre das denn wirklich erstrebenswert? Warum dachten die Leute eigentlich immer, ich könne beschließen, mir von jetzt auf nachher ein dickeres Fell wachsen zu lassen? Dass es mir allein am guten Willen mangelte? Wenn ich das beschließen könnte, hätte ich es längst getan.
    Doch ich stritt nicht mit Paul darüber. Das hatte keinen Sinn. Er war eben anders als ich. Ich versuchte mich damit zu trösten, dass eine Genesung ihre Zeit brauchte, und wünschte mir im Stillen Colin herbei, der mir noch nie vorgeworfen hatte, ich würde zu viel fühlen.
    Wenn meine Sorge um Paul zu belastend wurde, versuchte ich mich außerdem damit zu beruhigen, dass sich sein Faible für derbe Witze trotz Befall wacker gehalten hatte, und als charismatisch empfand ich ihn nach wie vor. Ganz abgesehen davon war ich mir sicher, dass er einen guten Arzt abgeben würde. Vielleicht machte er seine vorsichtigen Überlegungen ja wahr und griff sein Medizinstudium wieder auf. Dann konnte er Giannas kaputte Schultern reparieren und sich um ihren Reizmagen kümmern.
    Dass ihre Nerven blank lagen und sie dauernd mit nervositätsbedingten Zipperlein zu kämpfen hatte, nährte mein schlechtes Gewissen. Ich hatte schon in Hamburg gemerkt, dass ihr Magen auf jeglichen Stress sofort reagierte, und ja, auch mir verging in letzter Zeit oft der Appetit. Trotzdem machte Gianna keinen schwächlichen Eindruck. Sie hielt sich aufrechter und stolzer als zuvor, wenn sie durch die Straße lief, und ich fand, dass ihre kühnen Züge weicher geworden waren. Italien stand ihr.
    Ob es mir stand, wusste ich nicht. Es war immer noch ungewohnt für mich, nie mehr als maximal drei Kleidungsstücke zu tragen und stundenlang im Bikini herumzulaufen; meine Haut bräunte nur langsam und meine Haare wehrten sich mit aller Macht gegen den Wind, das Salzwasser und die unbarmherzige Sonne.
    Es gab noch weitere Aspekte, die mir das Zuhausefühlen erschwerten. Zum Beispiel das italienische Brot. Deshalb entschloss ich mich, erst einmal auf das Frühstück zu verzichten. Nach meinem Albtraum und meinem Gespräch mit Gianna hatte ich sowieso keinen Hunger und des ewigen Weißbrots wurde ich langsam überdrüssig. Die Italiener kannten kein Schwarzbrot. Es gab nur ein längliches, plattes Weißbrot, das schon nach dem ersten Tag eine harte Kruste bekam und, wenn überhaupt, nur ofenfrisch eine Köstlichkeit war – nämlich dann, wenn man es mit verschiedenen Auflagen (am besten dick Marmelade oder Honig) genießbar machen konnte. Ansonsten schmeckte der Teig nach gar nichts. Es wunderte mich, dass wir uns noch nicht mit chronischer Verstopfung herumplagten. Eigentlich hätte das Brot unsere Verdauung außer Kraft setzen müssen.
    Nein, frühstücken wollte ich nicht. Und sollte Tillmann immer noch nicht mit mir reden wollen, konnte ich mich bei ihm auf den Balkon setzen und zur Ruhe kommen; dagegen durfte er nichts einwenden, es war der Balkon, nicht sein Zimmer, und er würde sowieso nach unten gehen. Schon als ich die Stufen zum Dachboden nahm, hörte ich das Rauschen der Dusche in seinem winzigen Badezimmer. Umso besser. Dann konnte er weder meine Schritte hören noch mich vorzeitig davonscheuchen.
    In seinem Zimmer herrschte Chaos; Klamotten waren auf dem Boden verstreut, der MP3-Player lag auf dem Kissen, zwei leere Wasserflaschen standen neben dem Nachttisch, die Bücher stapelten sich kreuz und quer, das Bett war nicht gemacht und der Boden sandig. Ich stapfte durch die Unordnung und zog mich sofort auf den Balkon zurück, der sich noch im Schatten befand und auf dessen Fliesen Tillmann eine Luftmatratze gelegt hatte. Ein einfaches, aber gemütliches Plätzchen. Außerdem konnte man von hier aus das Meer überblicken.
    Erst setzte ich mich nur auf die Matratze, dann wurde mir mein Kopf eine solche Last, dass

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