Dornenkuss
ich dem Sog der Schwerkraft nachgab und mich ausstreckte. Seit Hamburg war ich kein Langschläfer mehr wie früher, doch sobald ich vormittags ins Nichtstun verfiel, wurde ich sehr schnell wieder müde, vor allem dann, wenn ich nachts nur wenig Ruhe gefunden hatte. Mein Körper begegnete mir selten so weich und entspannt wie morgens. Es war das pure Luxusgefühl, zu den Zeiten ein Nickerchen zu machen, in denen ich früher hatte in der Schule sitzen müssen und alle anderen Menschen arbeiten gingen.
Diese Vorstellung zog mich sogar in unserem Urlaub in ihren Bann. Ich wollte gerade die Augen schließen, nur für einen Moment, bis Tillmann im Bad fertig war, als mir die Kiste mit der Bioschokolade auffiel. Sie stand in Griffweite unter dem Dachvorsprung. Tillmann lagerte seine Schokolade im Freien? Wollte er sich ein Schokofondue zubereiten? Oder waren die Temperaturen auf dem Balkon tatsächlich niedriger als im Zimmer, wo die Hitze niemals wich und auch nachts noch durch das Dach drückte, weil die Holzbalken und Steine sie in sich aufgenommen hatten?
Plötzlich lief mir das Wasser im Munde zusammen. Schokolade … Ich hatte seit Tagen keine Schokolade mehr gegessen. Vielleicht war es genau das, was mir fehlte. Wenn es so heiß war wie hier, dachte ich nicht einmal an Schokolade, aber zu Hause, in Köln und im Westerwald, hatte es keinen einzigen Tag ohne Schokolade gegeben. Schokolade war mein Lebenselixier. Wenn keine Schokolade im Haus war, wurde ich nervös.
War das die Lösung – so naheliegend und simpel? Ich brauchte Schokolade? Manchmal waren die einfachsten Lösungen die genialsten. Und es hätte auch niemand gedacht, dass Penizillin auf schimmeligem Brot wuchs. Vielleicht brauchte ich Schokolade zu meinem Glück, ja, vielleicht löste sie genau das Quäntchen Serotonin aus, das mir dringend fehlte.
Schaden würde sie mir jedenfalls nicht und Tillmann würde es verschmerzen können, wenn ihm ein oder zwei Stücke fehlten. Ohne mich zu erheben, griff ich mit dem ausgestreckten Arm nach vorne und zog die Kiste zu mir herüber. Dann stützte ich mich in stiller Vorfreude auf meine Ellenbogen und lupfte den Deckel an.
»Buah«, entfuhr es mir. Was war denn das für ein Geruch? Erdig und feucht und sehr herb – herber, als dunkle Schokolade es jemals sein konnte. War sie verschimmelt oder verdorben? Nein, Schokolade schimmelte nicht. Sie wurde höchstens blass und verlor ihr Aroma. Ich schob den Deckel zur Seite und lugte hinein.
»Pilze?«, fragte ich mich konsterniert. »Tillmann züchtet Pilze?« Von der Terrasse drang leises Lachen nach oben, anscheinend war Gianna wieder im Gleichgewicht und verlor doch nicht den Verstand. Ich hingegen hatte den Eindruck, dass meiner mir einen Streich spielte. In dem Karton wuchsen Pilze. Kleine hässliche Pilze auf dünnen Stängeln, die ihre feinen Wurzelgeflechte in einen hellen Substratkuchen gewunden hatten, der feucht und glitschig aussah. War Tillmann nun unter die Mykologen gegangen? Und warum in Gottes Namen versteckte er diese Pilze in einem Schokoladenkarton – nicht nur das, er verschwieg sie auch vor uns. War ihm sein neues Hobby peinlich? Nein, das war alles nicht logisch. Vor allem fühlte ich, dass es nicht logisch war. Nur eines erklärte sich wie von selbst: Diese Pilze mussten es gewesen sein, die Colin heute Nacht gewittert hatte. Sie müffelten.
»Pilze …«, murmelte ich ratlos. »Was will er nur mit Pilzen?«
»Tessa austricksen«, ertönte Tillmanns oft so gefühlsarme Stimme hinter mir – doch dieses Mal hatte sie ein unüberhörbar verärgertes Timbre. Ich fuhr zusammen und schob rasch den Deckel auf die stinkenden Gewächse. Tillmann trat den Karton mit der Fußspitze aus meinen Händen, vorsichtig, aber bestimmt. »Hatte ich nicht gesagt, du sollst von meinen Sachen wegbleiben?«
»Kann sein. Du hast dich auch schon an einiges nicht gehalten, worum ich dich gebeten hatte. Es sind nur Pilze! Warum züchtest du Pilze? Ich verstehe es nicht. Oder träume ich?«
Ich setzte mich auf und schaute zu ihm hoch. Seine Haare waren noch nass, doch er war angezogen.
»Du träumst nicht und es sind nicht nur Pilze. Mann, Ellie, du hast echt keine Geduld, oder? Ich hab dir gesagt, dass ich dich einweihe, wenn es so weit ist. Du kannst einfach nicht warten.«
»Hör mal, es war reiner Zufall, dass ich die entdeckt habe, ich wollte ein Stück Schokolade essen, ehrlich! Wenn du es genau wissen willst, hab ich nicht mehr viel an dich gedacht in den
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