Dornenkuss
Treppe, bis wir vor der Tür des Salons standen. Paul legte seine Hand auf die Klinke, drückte sie aber nicht herunter.
»Was ist denn?«, fragte ich ungeduldig. Falls er bemerkt haben sollte, was mit mir los war und welche Symptome ich hatte, sollte er mich nicht zappeln lassen. Es ging hier um mein Leben.
Paul nahm die Hand wieder von der Klinke und zeigte mit dem Daumen auf die Tür – nein, auf Tessa, die dahinter auf ihrem Krankenbett lag. Randaliert hatte sie in den vergangenen beiden Tagen nicht mehr. Wir hatten nur hin und wieder ihr gurgelndes Husten und Röcheln gehört, was voll und ganz genügte, um unsere Folter zu vervollkommnen, weil es uns an das erinnerte, was uns möglicherweise ebenfalls blühte. Keiner von uns hatte nach ihr gefragt.
»Ich möchte nur kurz mit dir sprechen«, sagte Paul leise. Er griff in die Tasche seines Kittels. »Das ist die letzte Spritze. Penizillin. Und ich weiß nicht, ob sie helfen würde.«
Er hatte die anderen Dosen uns gegeben, rein prophylaktisch, wie er betonte. Nun hatte er nur noch diese eine.
»Aber – warum …?« Ein plötzlicher Brechreiz hielt mich davon ab weiterzusprechen. Was wollte er von mir?
»Ihr geht es sehr schlecht. Es ist ernst.« Paul sprach wie von einer ganz normalen Patientin, was mir zusätzliche Angst einjagte. »Tessa ist irgendwie deine Angelegenheit, deine und Colins, und …« Paul atmete schwer aus. »Ellie, als Colin den Kampf gegen François aufgenommen hat, war ich bewusstlos. Danach konnte ich zumindest dabei zusehen, mich aber nicht bewegen. Ich war unfähig zu handeln und wie in all den Monaten zuvor haben andere mein Schicksal bestimmt. Deshalb …« Er zögerte. »Wenn du sie noch einmal lebendig sehen möchtest, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt. Sie ist nicht mehr gefährlich. Du hast nichts zu befürchten. Vielleicht willst du ihr noch etwas sagen oder … ich weiß es nicht.«
Die Silben verschliffen sich miteinander, während Paul sprach. Er war so übermüdet, dass jedes Wort zu einer Hürde wurde. Immer wieder musste er blinzeln, um seine Augen zu befeuchten.
»Geht es dir denn gut?«, setzte er matt hinterher, als ich nicht reagierte.
»Ja«, log ich. »Alles in Ordnung.« Es war zumindest nicht schlimmer geworden. Nicht besser, aber auch nicht schlimmer.
»Es ist ein schmaler Grat zwischen Sterbehilfe und Behandlung.« Paul deutete erneut auf die Tür. »Ich habe keine Ahnung, ob diese Spritze sie retten kann oder es nicht besser wäre, sie ihrem Schicksal zu überlassen und die Medizin für euch aufzubewahren. Aus ärztlicher Sicht ist die Sache klar. Ich muss jene Patienten behandeln, die krank sind, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Vielleicht gibt es auch noch eine andere Sicht. Und ich denke, ich …«
Er sprach nicht weiter. Doch mir war klar, wie Paul handeln würde. Er würde die Spritze für uns aufbewahren – und damit entgegen dem ärztlichen Kodex agieren. Wollte er deshalb, dass ich jetzt von Tessa Abschied nahm? Abrechnen mit Tessa – wie sollte das gehen? Wieder hatte ich das Gefühl, würgen zu müssen.
»Ich will da nicht rein.«
»Das musst du auch nicht! Ich wollte dir nur die Möglichkeit lassen, bevor es zu spät ist. Ich würde dir natürlich einen sauberen Kittel geben und einen Mundschutz und Handschuhe, sodass du dich keiner Gefahr aussetzt.« Mit einer schwachen, langsamen Geste zeigte Paul schräg hinter sich auf die Küche. »Und ich … ich …« Kurz fielen ihm im Stehen die Augen zu, dann schreckte er wieder hoch und ließ sich auf die unteren Treppenstufen nieder, wo er den Kopf gegen die grob verputzte Wand lehnte. »Ach, Ellie, ich wollte immer den hippokratischen Eid schwören, das war mein großer Traum. Ich will ihn nicht brechen, bevor ich ihn überhaupt schwören darf …«
Paul war in Not, ich sah es ihm an. Er wollte etwas richtig machen, nachdem er so viel falsch gemacht hatte in den vergangenen Jahren, und hatte gleichzeitig Angst, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Doch was für einen Rat sollte ich ihm geben? Wenn ich meine geschwollenen Lymphknoten erwähnte, war klar, wie er sich entscheiden würde. Half ich ihm damit?
»Paul, ich muss dir etwas sagen. Ich habe …«
Verdutzt hörte ich auf zu sprechen und sah zu ihm hinunter. Doch ich hatte richtig gehört. Paul schnarchte. Mit offenem Mund hing er an der Wand und schlief. Wahrscheinlich hatte er bis jetzt kein Auge zugetan. Ich dachte an seine Herzblockade, an seine permanente
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